Dixit insipiens in corde suo — Ps. XIII (14)

Im Hintergrund Jesus, von zwei Soldaten bewacht. Vorne Pilatus umgeben von den Juden, die Jesu Verurteilung fordern.

„Alle sind sie abtrünnig und verdorben, keiner tut Gutes“ (13,3). Und der einzige, der ohne Sünde ist, wird unschuldig angeklagt und von Pilatus verurteilt-

Psalm 13 konfrontiert den Beter mit einem zweifachen Problem im Textbestand. Darauf soll hier ausnahmsweise etwas näher eingegangen werden soll, weil diese Probleme zum ersten auf ganz praktische Weise den Beter des Breviers betreffen und zweitens auch Stoff zum Nachdenken darüber bieten, wie die Schriften des alten und des neuen Testaments überhaupt zustande gekommen und dann überliefert sind.

So, wie der Text von Psalm 13 heute „rekonstruiert“ wird, und auch in der „Nova Vulgata“ sowie der „Liturgia Horarum“ der Liturgiereform enthalten ist, besteht der Psalm aus 7 Versen, die von geringfügigen Ausnahmen abgesehen wortwörtlich mit dem ebenfalls 7 Verse umfassenden Psalm 52/53 übereinstimmen. Zwar gibt es mehrere Psalmen, die einzelne Abschnitte miteinander gemeinsam haben, aber eine vollständige Übereinstimmung vom ersten bis zum letzten Vers kommt nur hier vor und muß die Frage aufwerfen, was die Schriftgelehrten der „Endredaktion“ sich dabei wohl gedacht haben. Eine Frage, auf die wir hier nur mit der Vermutung eingehen können, daß die (nachchristliche) Endredaktion durch die Masoreten möglicherweise die Gelegenheit genutzt hat, sich von der Lesart der Septuaginta, die von den Christen ganz allgemein hochgeschätzt wurde, zu distanzieren.

Das hauptsächliche Textproblem besteht darin, daß dieser Psalm in der Septuaginta und in der Vulgata tatsächlich 10 Verse umfasst – also dort nicht vollständig mit Psalm 52 übereinstimmt. Mit diesen 10 Versen steht er auch in der ehrwürdigen Vulgata Clementina sowie im traditionellen Stundengebet der Kirche des Westens und des Ostens; so auch noch im Breviarium Romanum nach dem Stand der Bücher von 1962. Die drei zusätzlichen Verse stehen dort quasi als „Einschub“ zwischen Vers 3 und Vers 4 und wurden offensichtlich auch immer als „Einschub“ wahrgenommen – denn diese Verse haben keine eigene Zählung. Von daher erscheint es unter textkritischen Gesichtspunkten durchaus begründbar, sie in einer „Rekonstruktion“ wegzulassen – ob ein solcher Eingriff jedoch sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt.

Die zusätzlichen Verse der Septuaginta-Tradition sind nämlich gleich auf doppelte Weise in der hl. Schrift verankert. So, wie sie da stehen, finden wir sie in einer Passage des Briefes an die Römer ( Röm 3, 10ff) wieder, die der Verfasser dieses Briefes ausdrücklich mit „Wie es in der Schrift heißt:“ einleitet, um dann den entsprechenden Abschnitt von Psalm 13 in der erweiterten Form wiederzugeben. Offenbar zitierte er also den Psalm, wie das bei den meisten Schriftzitaten im neuen Testament der Fall ist, aus der Septuaginta, und die späteren Übersetzer ins Lateinische, die zweifellos auch die kürzere hebräische Fassung kannten, sahen sich wegen der Autorität „des Apostels“ und in Ehrfurcht vor dem Gotteswort der Septuaginta in der Pflicht, diese Form beizubehalten – trotz des ihnen sicher gegenwärtigen Schönheitsfehlers der fehlenden Verszählung.

Zum zweiten sind die fraglichen Verse – wie das für viele Psalmverse nachweisbar ist – aufs Engste mit anderen Passagen des Buchs der Psalmen und anderer Schriften des alten Testaments verknüpft. Die Kehle der Spötter als offenes Grab kommt auch in Ps. 5 und Ps. 139 vor; Lästerung und Bitterkeit in Ps. 10; eine ganz ähnliche Aufzählung von Bosheiten findet sich in Jesaja 59. Die im Psalmengebet der Kirche auf die früheste Zeit zurückgehende ausführlichere Form von Psalm 13 zugunsten einer vermeintlich authentischeren hebräischen Überlieferung aufzugeben, ist also keinesfalls zwingend. Zumal die Beibehaltung der erweiterten Form auch das Problem der Dubletten von Psalm 13 und 52 zumindest abgemildert hätte. Aber nicht nur hier gibt die moderne Bibelwissenschaft der (vermeintlichen) Präzision moderner textkritischer Methoden den Vorzug vor der Treue zur Tradition.

An dieser Stelle hat das glücklicherweise keine bedeutenden inhaltlichen Auswirkungen. Die getilgte Erweiterung dient lediglich der Unterstreichung des Inhalts, dessen Aussage sie mit poetischen (und den Hörern des Psalms auch wohlbekannten) Schriftstellen verstärkt und vertieft. Diese Aussage ist relativ eindeutig zu erfassen, selbst wenn es im hebräischen Text viele sprachlich „schwierige Stellen“ gibt, die dazu geführt haben, daß die modernen Schriftgelehrten bei keinem anderen Psalm so viele Lesungsvarianten festgestellt und Änderungsvorschläge vorgenommen haben wie bei Psalm 13/14. Wir halten uns bei der Beschäftigung mit dem Inhalt an die traditionelle Version der Septuaginta/Vulgata, die bereits eine Interpretation enthält und dementsprechend leichter verständlich übersetzt hat.

Psalm 13 schließt in seiner Tonalität weniger an die zuversichtliche Gelassenheit von #12 an, sondern eher wieder an den betroffenen, ja nachgerade verängstigten, Tonfall von #11, den er noch verstärkt. Er zeichnet in drastischen Bildern das Bild von gottlosen Feinden, und es besteht auch wenig Zweifel daran, daß diese Bösewichter (zumindest zunächst) sehr irdischer Natur sind: Sie sind schlecht und verdorben, keiner tut Gutes, sondern Sie „verschlingen das Volk wie einen Bissen Brot“.

Wer diese Feinde sind, bleibt allerdings unklar, man kann noch nicht einmal eindeutig feststellen, daß sie „gottlos“ sind – das wären also vermutlich Heidenvölker, die Israel oft genug bedrängten – oder „gottvergessen“ – dann eher Angehörige des eigenen Volkes, die sich von Gott und seinem Gesetz abgewandt haben und ihre schwächeren Volksgenossen unterdrücken und ausbeuten. Für beide Lesarten gibt Anhaltspunkte; die für die zweite Lesart scheinen zu überwiegen, wenn man so drastische Stellen zum Vergleich heranzieht wie Micha 3,3, wo der Prophet die Unterdrücker des eigenen Volkes mit Kannibalen vergleicht. Andererseits rückt die Schlußzeile wieder die babylonische Fremdherrschaft ins Blickfeld – wobei man nicht die Möglichkeit aus dem Auge verlieren darf, daß solche Schlußzeilen womöglich später angehängt wurden, um eine bestimmte Lesart zu stützen.

Die Kirchenlehrer haben noch eine dritte Erklärung zu bieten: Für sie schildert die Klage der allgemeinen Gottlosigkeit den Zustand des ganzen unter die Erbsünde gefallenene Menschengeschlechtes, bis der Herr, „der vom Himmel herabschaut und prüft, ob er da einen Gottesfürchtigen findet“ (V. 2), seinen Ratschluss vollendet, den Eingeborenen Sohn als Erlöser zu senden. Auch das eine schöne Deutung für den Schlußvers: Wer wird vom Sion herab Israel das Heil bringen? Wenn der Herr die Gefangenschaft seines Volkes (nämlich die in der Sünde) wendet, werden Jacob und Israel jubeln.

Bei all diesen christlichen Interpretationsansätzen ist zu bedenken, daß die Psalmen natürlich auch bereits vor der Zeit Christi einen Sinn gehabt haben müssen, der sie als Gebet des Volkes Israel wertvoll machte und dafür bürgte, daß sie als Wort Gottes mit in die Heilige Schrift aufgenommen werden konnten. Der heutige christliche Beter der Psalmen tut gut daran, bei seinem Gebet die Psalmen mit zwei Augen zu lesen – eines für die eher jüdisch-alttestamentarische, das andere für die neutestamentarische Lesart. Meistens geht das erstaunlich gut – aber wenn man dabei manchmal etwas schielen muß, kann das zwar schmerzhaft sein – aber auch wertvolle Einsichten vermitteln.

Im konkreten Fall von Psalm 13 ist die ebenso schmerzhafte wie wertvolle Einsicht die, daß zweitausend Jahre nach der Menschwerdung des Erlösers die Lage für die Christgläubigen in weiten Teilen der Welt – auch und gerade für das ehemals „christliche Abendland“ – durchaus so drastisch geschildert werden kann, wie das in Psalm 13 von den Gottlosen ausgesagt wird. Vers 3 ist heute wie zur Zeit des alten Testaments von bestürzender Aktualität: „Ein offenes Grab ist ihre Kehle, mit ihrer Zunge handeln sie trügerisch, Natterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll von Fluch und Bitterkeit, ihre Füße sind schnell zum Blutvergießen. Verderben und Unglück ist auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens kennen sie nicht. Sie haben die Furcht Gottes nicht vor Augen.“

Vers 5 enthält – zumindest in der griechischen Version, die hebräische ist noch schwerer lesbar – den Hinweis zur Abhilfe. Im Anschluss an die Feststellung „Sie haben die Furcht Gottes nicht vor Augen“ schreiben Septuaginta/Vulgata: „Sie haben den Herrn nicht angerufen, und sie haben sich gefürchtet, wo kein (Grund zur) Furcht war.“ Soll heißen: Sie waren nicht besorgt und bemüht um die göttlichen Dinge, sondern haben ihren Sinn alleine auf das irdische (vergängliche und daher wertlose) gerichtet.

Wenn dieses Verständnis der Passage zutrifft, wäre das eine der Stellen, an denen die Septuaginta in der Stufenleiter von Offenbarung und Erkenntnis schon einen Schritt weiter ist als die stärker in die altisraelische Gedankenwelt zurückgreifende hebräische Fassung der Masoreten – so, wie es Papst Benedikt in seiner „Regensburger Vorlesung“ von 2006 postuliert hatte. Und es wäre auch ein Schlüssel zum Verständnis dieses Psalms aus der heutigen Situation heraus, die ja durchgängig davon gekennzeichnet ist, daß die Menschen ihre Befürchtungen auf Dinge richten, die letzten Endes der Furcht nicht wert sind, während sie das leicht nehmen, was ihr Schicksal in der Ewigkeit entscheidet.

Letzte Bearbeitung: 25. März 2024

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