Domine, quis habitabit — Ps. XIV (15)
Der Weisheitslehrer legt den andächtig lauschenden Zuhörern die Schrift aus: „Wer sich danach richtet, der wird niemals wanken“ (14, 5)
Die jüdische - und dem folgend auch die traditionelle christliche – Überlieferung schreibt Psalm 14 König David als Urheber zu und verbindet das Lied mit der feierlichen Übertragung der Bundeslade nach Jerusalem und mit der Einweihung des Bundeszeltes auf dem Zionsberg. Historische Belege für diese Autorschaft und diese frühe Verwendung des Psalms gibt es nicht. Wie so oft mögen spätere Sänger in ihren Liedern auf ältere Bruchstücke aus der frühen Zeit zurückgegriffen haben. Und dann natürlich das Bestreben von Sängern, Dichtern und Redakteuren, dem von ihnen verarbeiteten Material eine möglichst altehrwürdige Herkunft zuzuschreiben.
Dem heutigen Beter erschließt sich dieser Psalm am leichtesten, wenn er ihn im Sinn der „Weisheitstradition“ versteht – das ist jene lange Zeit nach David entstandene Denkrichtung im AT, die sich mit den Anforderungen an ein gottgefälliges und gelingendes Leben beschäftigt und zahlreiche Denksprüche und Lehrgedichte hervorgebracht hat. Der vermutlich sehr spät entstandene Psalm 1 ist deutlich von dieser Weisheitstradition geprägt, und in Psalm 14 findet sie einen ihrer konsequentesten Ausdrücke.
Tatsächlich bietet der Psalm einen umfangreichen und weitgehend überzeitlich gültigen Katalog beherzigenswerter Gebote und Grundsätze. Nun verleitet freilich die Eingangsfrage „Wer wird wohnen in Deinem Zelt?“ dazu, den Psalm in eine enge Verbindung zum Tempel oder dessen Vorgänger, dem Bundeszelt zu bringen. Moderne Ausleger unterstellen sogar einen Zusammenhang mit einer Art Zugangsliturgie – einem Katalog von Fragen und Ermahnungen, der den Besuchern des Tempels vor dem Eintritt vorgetragen wurde oder den sie selbst rezitierten und vor ihrem Gewissen beantworten mußten. Unmöglich oder gar widerlegbar ist das nicht. Wie so oft, schließt auch hier der eine Erklärungsansatz den anderen nicht aus. In den Jahrhunderten, die der schriftlichen Fixierung der Psalmen vorausgingen mögen vielfache Veränderungen im Gebrauch dieser Lieder erfolgt sein – und auch nach deren Verschriftlichung sind solche „Umwidmungen“ nicht auszuschließen.
Jedenfalls wird gleich im ersten Punkt des Katalogs die Forderung nach „makellosem Lebenswandel“ erhoben, und das läßt sich sehr wohl in dem Sinne verstehen, daß damit die den frommen Juden nach zahlreichen Schriftzeugnissen besonders wichtige „kultische Reinheit“ gemeint ist, die die grundlegende Voraussetzung zum Besuch heiliger Orte darstellte. Allerdings gibt es in der Überlieferung unseres Wissens keinerlei historischen Hinweis darauf, daß eine solche rituelle Überprüfung oder Bekräftigung der Zugangsberechtigung vor dem Betreten des Tempels erfolgt wäre. Und die Psalmen generell machen die im Gesetz so eminent wichtigen Reinheitserfordernisse auch nur sehr zurückhaltend zum Thema, wenn überhaupt. Nicht nur hier begegnet uns der merkwürdige Umstand, daß die Vorschriften des „Gesetzes“, die doch in der masoretischen und auf die Pharisäer zurückgehenden Tradition des späten Judentums eine so zentrale Rolle spielen, in vielen Psalmen kaum vorkommen, ja sogar – beispielsweise hinsichtlich der Tieropfer des Tempels – nachgerade in Zweifel gezogen werden.
Wenn also auch ein Zusammenhang von Psalm 14 mit einer Tempelliturgie nicht auszuschließen ist – zum Verständnis seiner Aussage als Gebet ist diese Konstruktion nicht erforderlich. Dazu reicht es völlig, die Wendung vom „Wohnen in deinem Zelt“ als Umschreibung für ein dauernd an den Geboten Gottes ausgerichtetes Leben und dementsprechend vertrautes Verhältnis zu Gott zu verstehen. Leben in der Gnade, wie es aus christlicher Perspektive anzusprechen wäre.
Bemerkenswert ist, daß Psalm 14 als „Belohnung“ für das Leben nach den Geboten Gottes keine konkreten Gunsterweise wie irdisches Wohlergehen und reiche Nachkommenschaft in Aussicht stellt, sondern mit der Wendung: „der wird auf ewig nicht erschüttert werden“ zumindest im Ansatz den Blick über den irdischen Horizont hinaus weitet – auch im masoretischen Text und der jüdischen Septuaginta.
Wir wissen nicht genau, wie die Ewigkeitsvorstellungen der frommen Juden aussahen. Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod war nicht unumstritten und hatte dort, wo es ihn gab, zumeist eine freudlose und schattenhafte Existenz im Totenreich der Sheol zum Gegenstand. Nur selten blitzte der Gedanke an ein Weiterleben der Frommen im wiederhergestellten Paradies auf, wie bereits im (sehr spät entstandenen) Psalm 1 zu beobachten ist. Das späte Judentum war zwar eine strenge Gesetzesreligion, hatte aber keine Dogmen zu Glaubensdingen über das hinaus, was bereits in den ersten drei Geboten des Dekalogs festgelegt war. So konnte sich ein Jude mit „schwachem“ Jenseitsbild beim Schlußsatz von Psalm 14 durchaus mit einer vagen Erwartung von irdischem Wohlergehen für sich und seine Nachkommen als Lohn für seine Treue begnügen, während andere darin die Verheißung eines ewigen Lebens im Angesicht Gottes erblicken mochten. Für die Christen schon der ersten Stunde gab es da keine Wahl und keinen Zweifel: Psalm 14 war die Bestätigung ihrer Ethik und ihrer Glaubenshoffnung auf das eigentliche Leben im Jenseits. Es gibt keinen Grund, warum Christen das heute anders sehen sollten. Und je mehr der Gedanke vom Weiterleben, ja vom eigentlich richtigen Leben nach dem irdischen Tode aus dem Bewußtsein der Menschen schwindet, um so wertvoller ist der aus Psalm 14 zu entnehmende Anstoß für heutige christliche Beter.
Letzte Bearbeitung: 25. März 2024
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