Miserere mei Deus — Ps. L. (51)

David, mit Krone und Harfe, steht auf dem Dach seines Palastes und erblickt die badende Batseba

„Meine Sünde steht mir immer vor Augen.“ (Ps. 50, 5)

Psalm 50 gehört zu den theologisch aussage­stärksten des ganzen Psalters. Der Hauptteil (3 – 14/19) hat den Charakter eines Bußgebetes und entwickelt in einer für das Alte Testament unge­wöhnlich komplexen Weise eine Theologie von Sünde, Schuld und Vergebung. Die Kirche zählt Psalm 50 daher als Nummer 4 zu der Reihe der Bußpsalmen. Der Schluss, von dem man nicht klar sagen kann, ob er nur die Verse 20 und 21 umfasst oder nicht doch bereits mit Vers 15 einsetzt, greift den Gedanken des rechten Dankes (und damit auch des Opfers) wieder auf, den der von seinen Sünden Befreite seinem Gott schuldet, und verbindet diesen Gedanken mit der Bitte um die Wiederherstellung von Stadt und Tempel Jerusalems.

Nach den Überschriften – die masoretische und die griechische Tradition stimmen hier, was eher selten ist, überein – wird dieser Psalm von Alters her König David zugeschrie­ben, als er die Verwerflichkeit seines Handelns gegenüber dem Feldherrn Uriah und dessen Ehefrau Batseba einsah. Tatsächlich eröffnet Psalm 50 eine ganze Reihe (bis 71 einschließlich) von „Davidpsalmen“, die der erste König verfasst haben soll und die bestimmten Episoden seines Lebens zugeordnet werden. Die Form und die teilweise schon recht komplexe Gedankenwelt dieser Psalmen sprechen generell gegen eine so frühe Entstehung – was nicht ausschließt, daß sie in einzelnen Versen und Gedanken­gängen doch auf alte Elemente zurückgehen. Das gilt besonders für die unübersehbaren Passagen, die in sprachlich abgemilderter Form Anklänge an Verfluchungen von Gegnern oder Gottlosen enthalten. Der Fluch war in den ältesten Zeiten eine der gebräuchlich­sten, wenn auch abwegigen Formen des „Gebetes“ – und ganz ausgestorben ist diese Übung nie.

Als Bekenntnis eines reuigen Sünders gelesen und gebetet, bietet Psalm 50 dem Ver­ständ­nis wenig Schwierigkeiten. Auch hinsichtlich der Sprache nicht – Psalm 50 spielt sowohl in der jüdischen wie in der christlichen liturgischen Tradition eine große Rolle und wurde ohne größere Abweichungen und Sinnbrüche überliefert. Das „gegen Dich allein habe ich gesündigt“ in Vers 6 will angesichts der (unterstellten) Sachlage der Tötung Usiahs nicht die Schuld gegen Mitmenschen leugnen, sondern betonen, daß jede Sünde sich zunächst gegen Gott vergeht, weil sie sein Gebot bricht. Vers 7 erklärt nicht Zeugung und Empfängnis per se zur Sünde, sondern nimmt fast schon in Art einer Bitte um mildernde Umstände Bezug auf die Erbschuld, die auf dem gesamten Menschen­geschlecht lastet und es ihm so schwer macht, das als richtig Erkannte auch zu tun bzw. das als böse Bewußte zu zu meiden. Dieser Gedanke war auch den Juden seit der Vertrei­bung Adams aus dem Paradies durchaus geläufig und wurde im Christentum dann nur noch weiter entfaltet.

Vers 8 bringt dann einen Umschwung: Da Gott gerade das Gegenteil von allem Dunklen und Bösen ist, hat er auch die Macht, das Böse auszulöschen und „wieder gut zu machen – davon ist der Beter überzeug, darauf richtet sich seine Bittet. Die Besprengung mit Ysop bezieht sich dabei auf das vebreitete Reinigunsritual mit Asche oder Zweigen des duftenden Ysop (Majoran) – eines der „Protosakramente“ (s. „Schaubrote“ im Abschnitt über Psalm 42) des alttestamentarischen Kultus, das im sonntäglichen Sakramentale des Asperges (unter Zitierung von 50, 9) in der Kirche fortlebt. Auffällig in diesem Abschnitt über die Vergebung der Sünden ist die zweimalige Anführung des „Geistes“ in den Versen 12 und 13. Das Hebräische hat hier beide Male das Wort „ruah“, den Hauch oder den Geist des göttlichen Handelns, die westlichen Versionen haben durchaus gleichbe­deu­tend „pneuma“ bzw. „spiritus“. Nur in Anwesenheit und durch die Kraft des göttlichen Geistes kann der Mensch nach dem Willen und Gebot Gottes handeln – es fällt schwer, hier nicht eine Vorgestalt der heilbringenden Gaben des Heiligen Geistes zu sehen und an das Wirken der „heiligmachenden Gnade“ zu denken.

In diesem Zustand, der nur durch das rückhaltlose Bekenntnis der eigenen Scbuld vor Gott herbeigebetet werden kann, ist der Mensch dann nicht nur fähig, in der Gnade des Herrn selbst richtig zu handeln, sondern er kann auch seine Mitmenschen dazu anhalten. Diese „soziale Komponente“ spielt im religiösen Leben Israels (und des Christentums auch) eine große Rolle. Wenn sie hier (V. 15) so ausdrücklich erwähnt wird, bedeutet das nicht, daß ein König spricht, für den das „Belehren der Frevler“ zu seinen vornehmsten Amtspflichten gehörte. Dazu ist auch jeder Hausvater in seiner Familie und jeder Stadt­älteste in der „Versammlung am Tor“ berechtigt. Aber es hat sicher die Zuschreibung des Psalmes an David gefördert.

Mit Vers 18 kehrt der Psalm dann noch einmal und vermutlich nicht zufällig zum Haupt­thema des vorhergehenden Psalms zurück: Dem rechten Geist des Opfers, der darin besteht, den eigenen Willen unter den Willen und das Gebot Gottes zu stellen. Nur soweit sie dem entsprechen, sind auch die materiellen Opfer vom (gottgeschenkten) Reichtum der Herden dem Herrn wohlgefällig und dem Opfernden nützlich. Die beiden letzten Verse 20 und 21 werden vielfach als ein Zusatz aus der Zeit nach dem Exil be­trachtet, der einerseits die Bitte um den Wiederaufbau von Stadt und Tempel vorträgt und anderseits diese Bitte dazu nutzt, der vorangehenden Opferkritik einen Teil ihrer Stoßkraft zu nehmen: Nicht nur die rechte Gesinnung soll Bedingung für ein Gott wohlgefälliges Opfer sein, sondern auch die Existenz des Tempels in Seiner befestigten Stadt. So, wie später die Märtyrer von Abitina bekannten: „Ohne den Sonntag können wir nicht leben“, wird hier der für die Zukunft des Judentums prägende Grundsatz formuliert: „Ohne den Tempel können wir nicht opfern“.

Im konkreten Zusammenhang enthält diese Aussage insoweit eine Zurückweisung oder zumindest Relativierung der Opferkritik, als man sie dahingehend lesen kann, daß der Verzicht auf die blutigen Opfer auf den Altären des Tempels nur so lange durch „geistige“ Opfer zu rechtfertigen sei, wie der Tempel nicht voll „funktionsfähig“ ist. Tatsächlich hat das Opferwesen sich in den Jahrhunderten vor Christi Geburt noch einmal stark ausge­weitet und wurde so auch zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Jesu „Reinigung des Tempels“ beleuchtet nur einen Aspekt dieser wenig frommen Entwicklung. Es gab also auch ökonomische Interessen, die spirituell begründete Opferkritik zu relativieren.

Letzte Bearbeitung: 11. April 2024

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