Audite haec omnes gentes — Ps. XLVIII (49)
„Gott wird mich loskaufen aus dem Reich des Todes“ (Ps. 48, 16)
Dieser Psalm gehört zu den (in allen Sprachversionen) „dunkelsten“ des ganzen Psalters. Das hat einmal mit der sprachlichen Überlieferung zu tun, die zu einer Fülle von Lesarten und teils auch umstrittenen „Verbesserungen“ im heutigen hebräischen Standardtext geführt hat. Dann aber auch mit dem Inhalt, der die tiefsten Geheimnisse der menschlichen Existenz in dieser und der kommenden Welt anrührt. Geheimnisse, die vor der endgültigen Offenbarung durch Christus weitgehend unbegreiflich sein mußten, und die auch im Licht des Wissens um die Unsterblichkeit der Seele und ihr Weiterleben nach Tod und Gericht nicht restlos erhellt sind.
Vielleicht ist das der Grund dafür, daß Psalm 48 eine ungewöhnlich lange Einleitung hat (1 - 5), die den weisheitlichen Charakter des Hauptteiles einschärft. Weisheitlich – das heißt, es geht um die Voraussetzungen eines gelingenden Lebens, und Psalm 48 betrachtet dieses Leben vom großen Geheimnis des Todes her: Wie kann Leben trotz dieses unvermeidlichen Endes überhaupt gelingen? Denn diesem Ende kann sich keiner entziehen, kein Armer und kein Reicher, kein Schlauer und kein Dummer, und keiner kann sich oder einen anderen von diesem Schicksal freikaufen. Die alten christlichen Erklärer haken hier ein und setzen dem „Todesschatten“ (canticus Zachhariae) des alten Testaments das Licht der Auferstehung entgegen: Doch Christus hat diesen Freikauf vollbracht!
Dem vorchristlichen Dichter und Beter des Psalms war dieses Wissen noch nicht zugänglich, und er fährt mit einer Wendung fort, die sich insbesondere an die zu richten scheint, die mit Macht und Pracht all ihre Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen: Auch die Großen und Mächtigen, die Ländereien (oder ganze Länder) nach ihrem Namen benannten, müssen hinunter ins finstere Grab. Dieser Gedanke ist dem Dichter so wichtig, daß er ihn in zwei Strophen doppelt vorträgt: In Vers 11 und 12, und dann noch einmal in den Versen 18 – 20. Und beidemal schließt er den Gedanken in Art eines Refrains mit der Aussage: Solange der Mensch in Pracht und Ehren steht, begreift er es nicht – und und gleicht so dem dem unverständigen Vieh.
Der Text ist gerade in diesen Passagen nicht ganz eindeutig, doch daß die Bedeutung ungefähr in die angedeutete Richtung geht, ist unumstritten. Eine weitere Schwierigkeit des Textes betrifft die Verse 8 und 9. Sie hat zu einem sehr interessanten Unterschied zwischen den (zumeist modernen) Erklärern, die sich eher am hebräischen Text und seiner Auslegungstradition orientieren, und einigen christlichen (überwiegend älteren) Auslegern geführt. Die der hebräischen Lesart folgende Interpretation sieht hier eine Folge von im Prinzip gleichgerichteten Gedanken, die einander verstärken. Nach der Einheitsübersetzung 1980: „Loskaufen kann doch keiner den anderen, noch an Gott für ihn ein Sühnegeld zahlen – für das Leben ist jeder Kaufpreis zu hoch, für immer muß man davon abstehn.“
Der Text der Vulgata, die in Vers 8 von „homo“ spricht und in Vers 9 von „anima“ legt ein weit darüber hinaus gehendes Verständnis nahe, nämlich daß im ersten Vers vom Leben in dieser Welt und im zweiten vom ewigen Leben der Seele die Rede ist: Es gibt keinen Preis, um eine Verlängerung des Lebens auf der Erde zu erkaufen, und auch nicht, um die Seele aus der Qual des Lebens im Totenreich (oder der Hölle) freizukaufen. Vers 16 spricht genau diese Seele und deren Erlösung durch Gott an. Ein Verständnis wie das der Vulgata kann daher auch für das Judentum der vorchristlichen Zeit nicht ausgeschlossen werden – selbst wenn es sich in dem heute anerkannten hebräischen Text von Vers 8 und 9 so nicht nachweisen läßt.
Noch an einer dritten Stelle (Verse 19, 20) sind deutliche Unterschiede zwischen der heutigen hebräischen Version und dem Text der griechisch/lateinischen Tradition feststellbar. Die hebräische Version, der wie so oft auch die Einheitsübersetzung folgt, bietet hier den Gedanken „Preist er sich im Leben auch glücklich und sagt zu sich, man lobt dich, weil du dir’s wohl sein läßt, so muß er doch zur Schar seiner Väter hinab…“ Das ist, insbesondere wegen des „Loben, weil du dir’s wohl sein läßt“, nur begrenzt überzeugend, und die griechisch/lateinische Tradition Vulgata hat hier eine auch nicht unproblematische, aber doch etwas einleuchtendere Variante anzubieten: „Denn seine Seele wird (schon) während seines Lebens gesegnet werden, er lobt Dich nur, wenn Du ihm Gutes tust.“ Von Ferne hört man hier den Voraushall der Worte Abrahams aus dem Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus bei Lukas (16, 25) „Und Abraham sprach zu ihm: Mein Sohn, Erinnere dich, daß du (viel) Gutes in Deinem Leben empfangen hast, und Lazarus entsprechend Übles. Und nun wird er dafür getröstet, während du leiden mußt“. Offenbar waren diese Worte des Evangeliums ihrerseits wieder nur ein Nachhall einer schon im Alten Bund verbreiteten oder zumindest aufkeimenden Glaubensüberzeugung: daß das Leben nach dem Tod das sühnt, was auf Erden gesündigt oder verfehlt wurde, und wieder gutmacht, was unschuldig erlitten worden war.
Die Hauptrichtung des Psalms wird durch solche Divergenzen in der Deutung einzelner Passagen kaum beeinträchtigt: Der erste Vers (6) des Hauptteils spricht in einer rhetorischen Frage das Thema deutlich genug an: Warum sollte ich mich am Tag des Unheils fürchten, wenn die Bosheit mich umringt? Die „Bosheit“ klingt zunächst nach menschlichen Verfolgern, ist aber hier und an anderer Stelle in den Psalmen eher eine Formel für allgemeine Schicksalsschläge und Todesgefahr, auch dämonisch bedingt. Warum also soll der Beter drohendes Übel und den unvermeidlichen Tod fürchten? Ist doch jeder, der lebt, dem Tod unterworfen und es liegt es nicht bei ihm, seiner Lebenszeit nur eine Spanne hinzuzufügen, wie Matthäus (6, 27) später das Thema in ganz ähnlicher Weise aufgreift. Und es ist sinnlos, mit Gott zu rechten, daß er seine Gunst hier auf Erden dem Anschein nach ungerecht verteilt: Der Tun-Ergehen-Zusammenhang gilt über den Tod hinaus – was in seiner Gänze freilich erst in der christlichen Perspektive auf Verdammnis in die Gottesferne und Ewige Anschauung der Herrlichkeit erkennbar wird.
Letzte Bearbeitung: 11. April 2024
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