Deus noster refugium — Ps. XLV (46)
Der Herr der Heerscharen ist mit uns (Ps. 45, 8)
Die anschließenden Psalmen 45, 46 und 47 sind ganz der Ausmalung des überzeitlichen Königtums Jahwehs gewidmet. Es gibt Vermutungen dahingehend, daß diese drei Lieder in einem übergreifenden Zusammenhang stehen – vielleicht als der Reihe nach vorgetragene Gesänge in einem liturgischen Rahmen. Zumindest für eine spätere Zeit lange nach dem Ende des Exils kann man das nicht ausschließen – nach dem niedrigen Stand der Kenntnisse über die Tempelliturgie aber auch nicht beweisen. Entstanden sind die drei Psalmen jedoch vermutlich zu verschiedenen Zeiten, auch formal gibt es deutliche Unterschiede, und da sie immer und überall als drei eigenständige Lieder überliefert worden sind, sollen sie auch hier so behandelt werden.
Psalm 45 besteht aus zwei bzw. drei Abschnitten, deren genauere Bestimmung und Abgrenzung den Auslegern viele Schwierigkeiten bereitet. Ein Teil dieser Schwierigkeiten läßt sich dadurch umschiffen, daß man den Psalm in drei Strophen zu jeweils vier Versen einteilt, die durch eine Textergänzung auch formal als Strophen mit dem Refrain „Der Herr der Heerscharen ist mit uns, der Gott Jakobs ist unsere Burg“ sichtbar gemacht werden. So verfährt noch die Einheitsübersetzung von 1980. Diese Stropheneinteilung erleichtert die Interpretation des Psalms erheblich. Das Problem ist nur, daß diese Ergänzung weder durch die hebräische noch die griechisch/lateinische Textüberlieferung getützt wird – sie ist Ergebnis eines modernen Strebens nach Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit.
Die Version 2016 der EÜ hat sich dann auch wieder davon verabschiedet. Im Sinne wissenschaftlicher Genauigkeit ist das möglicherweise zu begrüßen – die Verständlichkeit wird dadurch eher beeinträchtig. In jedem Fall sollten solche Eingriffe (oder deren Revidierung) durch eine Anmerkung oder Kommentierung nachgewiesen werden. Der von vielen Ausgaben der der Einheitsübersetzung gewählte Weg, fast vollständig auf Anmerkungen zu verzichten, kann die Bibellektüre gerade für die nicht wissenschaftlich informierten Gläubigen ganz enorm erschweren. Vor allem dann, wenn in einem Haushalt zwei unterschiedliche Versionen der EÜ (Geschenke zur Erstkommunion oder unterschiedliche Ausgaben des Gotteslobs) aufeinandertreffen. Das ist unzumutbar und widerspricht allen pastoralen Erfordernissen, die doch sonst an die erste Stelle gehoben werden.
In der dreistrophigen Auffassung beschreibt die erste Strophe das unerschütterliche Gottvertrauen Israels in allen Wechselfällen des Lebens, vor allem bei Naturkatastrophen. Die Wasserwogen aus der Tiefe des Meeres sind dabei nicht nur als Überschwemmungen zu sehen, die im Lande Israel ohnehin nicht allzu häufig gewesen sein dürften. Die Rede von den Wasserwogen weckt in den Psalmen auch immer die Erinenrung an die chaotische Urflut, über der der Schöpfergott den Erdkreis befestigt hat und vor deren Tosen er die bewohnte Menschenwelt andauernd beschützt. In der zweiten Strophe erscheint das Wasser dann als der Leben- spendende Strom aus der Mitte des Paradieses, auf den auch in Psalm 1, 3 angespielt wird. Natürlich ist mit der „Gottestadt mit der heiligsten Wohnung des Herrn“ auch Jerusalem gemeint – aber jeder Jude wußte, daß Jerusalem nicht von einem Fluß durchflossen wird, daß die Wasserversorgung eher prekär war und vor allem der quellenlose Tempelberg durch ein aufwendiges Zisternensystem versorgt werden mußte. Doch da Gott in ihrer Mitte wohnt – diesmal ganz real im Tempel – können diese und andere Unbill ihr nichts anhaben, nicht Gewitterdonner, noch Schlachtengetöse. In der dritten Strophe erfolgt dann ein bemerkenswerter Umschwung. Wo der Krieg in Strophe zwei nur als ferne Möglichkeit angedeutet wird, gewinnt er in dieser Strophe katastrophale Realität. Gottlob ist diese Realität schon zu einer Sache der Vergangenheit geworden: Der Herr hat den Kriegen ein Ende gesetzt, die Waffen und Rüstungen zerschlagen und feierlich seine alles überbietende Alleinherrschaft proklamiert: „Lasst ab, und erkennt, daß ich Gott bin, erhaben über die (Heiden-)Völker, erhaben über die Erde.“
Die Vertreter der zweistrophigen Auffassung können sich für ihre Position nicht nur auf die überlieferte Schriftform stützen, die eben keinen Reim zwischen V4 und V 5 kennt, sondern auch darauf, daß die beiden ersten Absätze nicht wirklich einen Gegensatz oder auch nur eine Stufenleiter bilden, sondern vielleicht sogar durch die Erwähnung des Wassers in seinen beiden Erscheinungsformen – als chaotische Urflut und als Strom des Lebens – eng miteinander verbunden sind. Umso stärker dann der Bruch zum letzten Abschnitt mit den Versen 9 – 12: Es hat einen (oder mehrere) schrecklichen Krieg gegeben, und nur durch das wunderbare Eingreifen Gottes findet das Völkermorden ein Ende. Tatsächlich könnte man den zweiten Teil „Über den Krieg“ sogar mit Vers 7 einsetzen lassen – wenn da nicht der störrische Refrain in Vers 8. wäre.
Unverkennbar ist jedenfalls, daß der Schluß des Psalms in seiner Tonalität vom Gedanken an Kriege und deren schließliche Beendigung durch Gottes Eingreifen zugunsten Israels geprägt ist. Allgemein wird diese Strophe als Reflex der fehlgeschlagenen Belagerung Jerusalems durch die Truppen des assyrischen Großkönigs Sennacherib (~ 700 v. Chr) gedeutet, vielfach wird daraus auch geschlossen, daß der vordere Teil des Psalms (bis einschl. V 8) auf die Zeit vor dieser Belagerung zurückgeht, während die Verse 9 – 12 nach der wunderbaren Rettung der Stadt hinzugefügt worden wären. Denn ein Wunder war es, wenn der Engel des Herrn, wie bei Jesajah (36 und 37) überliefert ist, in einer Nacht vor der Ankunft der Assyrer in Jerusalem 185 000 von deren Soldaten getötet hat. Die Belagerung Jerusalems wird übrigens auch in einer in drei Exemplaren erhaltenen Stele der Assyrer erwähnt – und zwar ohne die sonst bei Belagerungen übliche Mitteilung der Eroberung.
Nun hatte die Rettung Jerusalems vor dem Angriff der Assyrer freilich keine dauernde Entlastung gebracht. Etwa 100 Jahre später waren die Babylonier erfolgreich mit ihrem Krieg gegen Juda und verschleppten in den folgenden Jahren große Teile der Oberschicht und handwerklicher Fachkräfte ins Exil. Jeremia gibt in 52, 28 – 30 für die Jahre bis 582 eine Gesamtzahl von etwa 4600 Deportierten an. Damit war Juda politisch, militärisch und wirtschaftlich quasi enthauptet und stark geschwächt – aber eine Entvölkerung bedeutete das nicht. Das festzustellen ist deshalb wichtig, weil die Rückkehrer nach der Freigabe durch Kyros in den Jahren nach 530 nicht in ein unbewohntes Gebiet kamen, sondern in ein Land, in dem sich neue Strukturen, Macht- und Besitzverhältnisse gebildet hatten. Das bildete den Stoff für zahllose Konflikte, die sich auch bei der großenteils in der Zeit nach dem Exil stattfindenden „Endformulierung“ der Psalmen widerspiegelt. (S. Kapitel zu Psalm 4)
Eine weitere Folge der Exilserfahrung war die stärkere Ausprägung messianischer Erwartungen, während die Erinnerung an die tatsächliche Königszeit (die mit dem Vasallenkönig Zedekia 586 geendet hatte) und die Hoffnung auf deren Wiederherstellung schwächer wurden. Der letzte Abschnitt von Psalm 45 ist schon ganz von dieser messianischen Grundstimmung geprägt. Der hier beschriebene Herr der Heerscharen ist nicht mehr allein der Stammesgott Israels, der sein Volk leitet und beschützt, sondern der Herrscher und Gesetzgeber der ganzen Erde.
Letzte Bearbeitung: 11. April 2024
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