Eructavit cor meum — Ps. XLIV (45)

David als Psalmist ist die Hauptfigur, ihm zur Rechten ein Schreiber, der sein Lied aufzeichnet, zur Linken Diener mit Opfertieren und dahinter der Hohepriester.

„Ich weihe mein Lied dem König“. (Ps. 44, 2)

Dieser Psalm verläßt das Thema der Klage der gottverlassenen Exilanten und stimmt einiger­maßen überraschend ein Preislied auf „den König“ an, genauer gesagt, einen Glückwunsch an einen König aus Anlaß der Zuführung seiner Braut oder – wie nach älterer Sitte wohl zu verstehen – einer neuen Nebenfrau für seinen Harem. So zumindest die äußere Ebene des Textverständnisses. Damit sind wir zurück­ver­wiesen auf die Zeit des Davidischen Königtums, in der die Aufnahme möglichst vieler auslän­discher Prinzessinen in den eigenen Haushalt bevorzugtes Mittel der Diplomatie war, um die Beziehungen zu benachbarten Königreichen zu festigen. Mit diesem Verweis ist nicht gesagt, daß der Psalm tatsächlich aus dieser frühen Zeit stammt – obwohl auch das zumindest für Teile davon nicht ausgeschlossen ist. Eher handelt Psalm 44 von der Idee des Königtums, und dabei präsentiert er eine für heutige Beter schwer entwirrbare Mischung aus Erinnerungen an die frühere Königszeit und Erwartungen an das zukünftige messianische Königtum.

Psalm 44 ist – wie fast alle Psalmen – keine historische Abhandlung und auch kein theologisches Traktat, sondern Dichtung, in der historische Erinnerungen, religiöse Erwartungen des ganzen Volkes, prophetische Elemente und höchst subjektive Gefühls­regungen direkt nebeneinander stehen können.

Die hebräische Tradition des Psalms ist von zahlreichen Textvarianten gekennzeichnet, die zum Teil auch erhebliche inhaltliche Auswirkungen haben. Die Septuaginta hat sich entsprechend der zur Zeit ihrer Abfassung starken messianischen Erwartungshaltung für eine der möglichen Lesarten entschieden, in der die messianischen Aspekte bereits relativ stark zum Ausdruck kommen und war damit wegweisend für die ganze christliche Tradition.

Das Problem der Lesarten ist damit teilweise zumindest entschärft, aber es bleibt eine inhaltliche Schwierigkeit: Der altorientalische Begriff des Königs weist große Unter­schiede zum Verständnis des Königtums auf, wie es sich in der christlichen Geschichte herausgebildet hat. Das hat einen quantitativen und einen qualitativen Aspekt. Viele der „Könige“, die uns im alten Testament begegnen, waren kaum mehr als Stammeshäupt­linge – auf dem Gebiet des „Großreiches“ Israel, das auch nicht viel größer war als das Bundesland Hessen, und seiner unmittelbaren Umgebung gab es vielleicht ein halbes Dutzend davon, wenn nicht mehr, wenn man die Stadtstaaten mitzählt. Die Möglichkei­ten dieser Könige zur Prachtentfaltung und zum Aufbau militärischer Macht waren durchaus begrenzt.

Doch diese „Kleinkönige“ – und die meisten Könige von Juda und Israel fielen genau in diese Kategorie – hatten mehr oder weniger die gleiche Vorstellung vom Königtum wie die „Großkönige“ der in der weiteren Umgebung liegenden Reiche der Assyrer, Hethiter und Ägypter, denen sie in der Regel auch tributpflichtig waren. Nach ihrer Königsideo­logie waren sie nicht wie die christlichen Herrscher Könige von Gottes Gnaden, sondern Gottkönige, Göttersöhne, Verkörperungen (um nicht „Inkarnationen“ zu sagen) von Gottheiten. Und oft waren sie Priesterkönige, wie das z.B. in Gen 14 von Melchisedech ausgesagt wird. In Psalm 2 waren bereits deutliche Spuren dieses Verständnisses vom Königtum feststellbar, und es ist unverkennbar, daß diese Königsideologie auch eine wesent­liche Voraussetzung für die Entwicklung der messianischen Begrifflichkeit gebil­det hat.

Das altorientalische Denken, wie es von den Juden geteilt und durch das Wirken des Geistes im Lauf von Jahrhunderten auf eine höhere Ebene gehoben wurde, kannte keine strikte Trennung zwischen der Welt der Götter und der der Menschen, sondern ging von einer Art Kontinuum aus, mit einem Obergott an der Spitze der Pyramide, darunter „Untergötter“, oft „Göttersöhne“, dann „Menschensöhne“ die quasi durch Adoption vergöttlicht wurden, und schließlich die Menschen selbst, von denen einige Auserwählte wie im Fall von Moses und den Propheten doch auch zu einem mehr oder weniger vertraulichen Umgang mit „ihrem“ Gott befähigt waren.

Von einem „Idealkönig“ in diesem Sinne ist offensichtlich im ersten Teil (2 – 10) von Psalm 44 die Rede, und auch wenn in Details immer wieder Gegenstände oder Begriffe aus der Erfahrungswelt (das Schwert an der Hüfte, die parfürmierten Gewänder, Elfen­bein­hallen usw.) benannt werden, ist es kaum möglich, zwischen der Erinnerung an reale Könige der Vergangenheit und messianischer Erwartung für die Zukunft zu unterschei­den. Und das ist zweifellos die Absicht des Dichters bzw. der Übersetzer der Septuaginta-Version. Die von der „kritischen“ Bibelwissenschaft insbesondere des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf der Grundlage hebräischer Textvarianten unternommenen Versuche, diesen Teil des Psalms als Preislied auf eine konkrete Gestalt zu deuten und gar für eine bestimmte Eheschließung zu datieren, gelten inzwischen als aussichtslos und verfehlt.

Zu diesem Loblied auf das Idealbild des (messianischen) Königtums tritt nun einigerma­ßen unvermittelt in Vers 10 die von weiteren Königstöchtern begleitete Braut. Auch diese Braut ist ein Symbol, das von Juden und Christen trotz unterschiedlicher Akzentu­ierung recht ähnlich gedeutet wird. In Psalmen wie 17 oder 19 und an vielen anderen Stellen der Propheten ist es schon angedeutet: Unter der segensreichen Herrschaft des Mesias werden sich Menschen aus allen Völkern oder sogar alle Völker selbst den Juden anschließen (nach einigen Lesarten auch unterwerfen) und ein großes Friedensreich errichten. Das Bild von der aus der Ferne gekommen Braut mit ihrem Gefolge, die sich mit dem Idealkönig vereinigt, ist symbolischer Ausdruck eben dieser Bewegung. Viele Interpreten insbesondere aus dem Judentum sehen daher in dieser Braut das als „Tochter Zion“ auf eine überzeitliche Ebene gehobene Volk Israel mit seiner Haupt- und Tempel­stadt Jerusalem.

Die christliche Interpretation ist durchaus ähnlich, aber auf charakteristische Weise konkreter: Sie identifiziert den messianischen König selbstverständlich mit Christus und sieht in der Königstochter aus der Ferne das Sinnbild der Kirche, in der die Menschen aller Völker dem als König herrschenden Christus zuführt werden.

Christliche Ausleger seit den Kirchenvätern haben buchstäblich für jedes Wort aus aus den Versen 11 – 16 eine christlich/kirchliche Entsprechung gesucht und auch gefunden. Das „Vergiß Dein Volk und Dein Vaterhaus“ von Vers 11 steht dann für die Aufforderung an die Juden, ihre „Verstocktheit“ zu übewinden und den längst erschienenen Messias anzuerkennen. Die Erwähnung von Tyros (V. 13) wird dahingehend gedeutet, daß auch störrische Heidenvölker, die sich bereits den Juden stets erfolgreich widersetzten, endlich zu Christus finden werden. Die Jungfrauen im Gefolge der Königstochter (V. 15) aber stehen nach dem hl. Bernard von Claiveaux dafür, daß es vor allem die „jungfräulichen Seelen in ihrer unentweihten Würde“ sind, die „inniger als die anderen Seelen dem Lamme folgen und die Braut begleiten“ dürfen (so nach dem sehr anregenden Kommen­tar Reischls, der leider keine Fundstelle bei Bernard angibt).

Es liegt auf der Hand, daß solche Analogien und Assoziationen weit über den Text hinausgreifen: Das steht so einfach nicht da. Das macht sie aber nicht wertlos für eine Lektüre im tropologischen oder aszetischen Sinn, der in der Theorie vom vierfachen Schriftsinn systematisch dargelegt worden ist. Die heilige Schrift vermittelt eben nicht nur den Literalsinn, die wörtliche und historische Bedeutung/Auslegung, die von der modernen Bibelwissenschaft einseitig in den Vordrgrund gestellt und verabsolutiert wird. Wer gerade die Psalmen auch „beten“ und nicht nur „lesen“ will, ist gut beraten, an den Stellen, an denen er mit dem wörtlichen oder historischen Instrumentarium der ersten (und untersten) Ebene „hängen bleibt“, einen Blick auf die anderen Ebenen (Schriftsinne) zu werfen. Kommentierte Ausgaben des 19. Jahrhunderts wie die von Thalhofer (1889) oder Reischl (1873) bieten dazu wertvolle Hilfen. Hinsichtlich des Literalsinnes sind sie von der modernen Bibelwissenschaft vielfach überholt – hinsichtlich der anderen Verständnisebenen sind sie immer noch wertvoll.

Noch zwei Gedanken zum Psalm selbst. Das eine ist die oft konstatierte Ähnlichkeit und das Verhältnis zum Hohen Lied. Ohne eine eingehende Befassung mit diesem ebenfalls sehr vielschichtigen Text kann dazu nichts gesagt werden, zumindest hier nicht. Der zweite Stolperstein ist das Verständnis von V 17.: „An die Stelle Deiner Väter treten einst Deine Söhne.“ Die oben bereits kurz angesprochene klassische kirchliche Interpretation sieht hier den messianischen König und die Kirche Christi angesprochen, deren Nach­kommenschaft in Zukunft alle Völker der Welt umfassen wird. Im tropologischen Sinn mag man das so sehen, aber selbst auf dieser Ebene ist nicht nachvollziehbar, warum der Messias (oder die Kirche) seine Väter aufgeben soll. Ist die Abstammung aus dem Hause David und der „Stammbaum Jesse“ nicht ein ganz wesentliches Kennzeichen, ja Erken­nungsmal für Christus und seine Kirche?

Alles hängt hier davon ab, welches „Du“ angesprochen sein soll, und das ist in vielen Psalmen, die häufige Sprecher und Objektwechsel kennen, grammatisch und inhaltlich schwer zu entscheiden. Ein solcher abrupter Wechsel erfolgt hier zwischen Vers 10, als dem letzten, der sich direkt an den König wendet, und Vers 11, der die „Tochter“ (des fremden Königs) anredet und damit offensichtlich die Braut meint. Sie wird in formalem Ton aufgefordert, ihr Herkunftsland und Vaterhaus zu „vergessen“ – wäre es da nicht überaus passend, das „an die Stelle deiner Väter treten einst Deine Söhne“ genau darauf zu beziehen? Die einheiratende Königstochter aus der Ferne muß ihre eigene Herkunfts­familie aufgeben und gewinnt dafür eine neue, noch einflußreichere. Oder tropologisch gelesen: Die Heidenvölker sollen ihre ererbten Götter und Gebräuche verlassen und für sich und ihre Nachkommen würdige Erben des wahren Königs werden.

So entspräche es dem altoriantalischen Familienverständnis (zumindest soweit wir davon wissen), würde allerdings die traditionelle Interpretation hinsichtlich der Kirche etwas erschweren – wenn auch nicht unmöglich machen. Das können wir leicht verschmerzen. Durch dieses eng auf den Literalsinn bezogene Verständnis gewinnen wir ein weiteres Indiz dafür, daß Psalm 44 aus liturgischen (oder höfischen, der Unterschied ist minimal) Elementen komponiert wurde, die tatsächlich auf das alte Königtum zurückweisen und gleichzeitig das überzeitliche Königtum Jahwehs und dessen erhoffte Konkretisierung durch den zukünftigen Messias – wenn auch eher unbestimmt – vor Augen stellen.

Letzte Bearbeitung: 28 Mai 2024

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