Deus, auribus nostris — Ps. XLIII (44)

Das Bild aus der Doré-Bibel zeigt Judas Maccabäus und seine kleine Kriegerschar vor der gewaltigen Übermacht des feindlichen Heeres.

„Du, mein König und mein Gott, verleihst Jakob den Sieg.“ (Ps. 43, 5)

Dieser Psalm bezieht sich auf die gleichen historischen Umstände, die auch die beiden vorhergehenden beherrschten: Das Leid der militärischen Niederlage, den Verlustes der Staatlichkeit und des Königtums Israels und schließlich der Verschleppung ins Exil. Von daher ist der christliche Beter gut beraten, nicht allzutief in die historischen Details oder Andeu­tungen, die der Psalm bietet, eintauchen zu wollen, sondern wie schon bei #42 ausgeführt, den Psalm als Parabel aufzufassen und als Anregung zu nehmen, die eigene Situation als Gläubiger in einer gottfernen Welt zu bedenken. Allerdings wird dieses Vorhaben nicht gerade erleichtert dadurch, daß Psalm 43 sowohl formal als auch inhaltlich eine ganze Reihe von Schwierigkeiten aufwirft.

Zum einen ist da eine unverkennbare Zweiteilung des Psalms: Der erste Teil mit den Versen 2 – 9 hat den Charakter eines Lob- und Dankliedes für die vom Herrn gewährte und unterstützte Inbesitznahme des Gelobten Landes und endet mit einer Wendung, die von einigen modernen Exegeten als Abschluß eines früher eigenständigen Liedes aufge­fasst wird. Im zweiten Teil ändert sich die Tonlage völlig: Die Verse 10 – 23 bilden eines der erschütterndsten Klagelieder des ganzen Psalters, Ausdruck nicht nur von Schmerz, sondern auch von tiefer Verzweiflung. Die letzten vier Verse 24 – 27 werden oft als eigenständiger dritter Teil aufgefasst, sie enthalten die Bitte um Wendung der Not, bemerkenswerter Weise hier ohne den Dank für die vorweggenommene Erfüllung der Bitte und das Versprechen des Lobpreises vor der ganzen Gemeinde.

Der harte Bruch zwischen dem ersten und dem zweiten Teil kann bedeuten, daß hier ein vielleicht älter Psalm aus glücklicheren Zeiten aufgenommen worden ist, zwangsläufig ist das jedoch nicht. Ob im Liederbestand vorgefunden oder neu gedichtet: In jedem Fall dient dieser Teil als Erinnerung daran, daß der Herr seinem Volk einst große Wohltaten erwiesen hat – und sich dann von ihm abgewandt und es seinen Feinden überlassen hat. Die Erfahrung und die Deutung dieses Bruches ist das eigentliche Thema des ganzen Liedes, und diese Erfahrung bildet die große Gemeinsamkeit im Erleben des alten Israel und dem der Kirche Christi, die sich heute die Klagen der ersten Verse des zweiten Teils (10 – 17) wörtlich zu eigen machen kann. Die Christen in Nigeria und China oder Vietnam sind „preisgegeben wie Schlachtvieh“, in den Länder des ehemaligen „christ­lichen Abendlandes“ werden die Gläubigen immer mehr zum „Spott und Hohn für alle, die ringsum wohnen“, und „Scham bedeckt ihr Gesicht wegen der Worte des lästernden Spötters und der rachgierigen Blicke der Feinde“.

Doch dann ein Bruch, mit dem die Ähnlichkeit und der Parallelismus enden. Die Verse 18 – 22 beschwören die Schuldlosigkeit des so hart gezüchtigten Volkes und versuchen den Ausbruch aus dem sonst als selbstverständlich vorausgesetzten und akzeptierten Tun-Ergehen-Zusammenhang: Unser Herz ist nicht von Dir gewichen – Doch Du hast uns in den Schatten des Todes geführt (20). Das wird hier als unwiderlegliche Tatsache behauptet, ohne Kompromiss und Hintertür. Eine Behauptung, die den bedrängten Christen zumindest der Länder des hochentwickelten und säkularisierten Westens für sich nicht erheben können, denn sie wissen genau, daß ihre Schritte den Pfad Gottes (19) verlassen haben, und daß kein synodaler Weg sie dahin zurückführen wird.

Aber was kann dann im Falle Israels Grund und Ursache dafür sein, daß der Herr sein ehedem so kraftvoll gefördertes Volk verstoßen und gedemütigt, ja bis an den Rand der Ausrottung geführt hat? Im folgenden Vers 22 wird das Geheimnis gelüftet – und damit gleichzeitig ein neues Geheimnis angedeutet: Gerade weil das Volk Israel sich nicht von seinem Gott abgewandt und in den Jahrzehnten vor dem Exil sogar mit neuer Kraft und Entschiedenheit dem Gesetz Gottes zugewandt hat, erweckt das den Haß und die Mord­lust der Götzendiener ringsum. Eine Erfahrung, die von den frühen Christen geteilt wird, wie der heilige Paulus in seinem Brief an die Römer ausführt, wo er im Zusammenhang mit der Verfolgung, der schließlich auch er zum Opfer fallen sollte, Vers 22 wörtlich zitiert: „Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden be­han­delt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat.“ (Röm 8, 36).

Die Gnade der Auserwählung wird nicht umsonst gewährt. Sie ist nicht nur eine große Gabe, sondern geht auch mit äußerster Gefährdung einher – bis hin zur Verpflichtung, das Martyrium auf sich zu nehmen. Der Gedanke wird auch in Psalmen 69, 8 sowie bei bei Jeremias 15, 15, angesprochen und liegt letztlich auch den Liedern vom verfolgten Gottesknecht zugrunde, wird jedoch selten so schonungslos ausgesprochen wie hier. Papst Benedikt hat diesen Zusammenhang – sehr zum Ärger der säkularen Machthaber – bei seinem Besuch in Ausschwitz ebenfalls ungewohnt deutlich ausgedrückt, als er sagte: „Im tiefsten wollten jene Gewalttäter mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat.“ Die Götzendiener Babylons und der Kanaaniter sind immer noch unter uns. Und selbst wenn die Kirche, die das Erbe Israels angetreten hat, dabei ist, dieses Erbe zu verschleudern, erkennen sie doch auch in den Restbe­stän­den immer noch ihren Feind.

Diesem theologischen Höhepunkt des Psalmes folgen unmittelbar die Schlussverse mit den flehentlichen Bitten um Erlösung. So dringlich diese Bitten auch vorgetragen werden - sie bleiben doch, wie schon angesprochen, hier ausnahmsweise ohne den sonst üblichen Ausdruck der Erfüllungsgewißheit. Vielleicht, weil nach Vers 23 der Gedankengang zu der Einsicht geführt hat, daß eine Erlösung in der Art, wie viele gläubige Juden sie sich vorgestellt haben mögen – etwa als Errichtung eines irdischen Paradises unter der wohlwollenden Herrschaft eines messianischen Königtums – nicht wirklich dem Plan und dem Gesetz des Herrn entsprechen würde.

Letzte Bearbeitung: 28. Mai 2024

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