Quemadmodum desiderat corvus —
Ps. XLI (42)
„All Deine Wogen gehen über mich hin“ (Ps. 41, 8)
Psalm 41 samt den unmittelbar folgenden – und damit der Beginn des zweiten Buches – unterscheidet sich nach Inhalt und Tonlage nicht allzu deutlich vom ersten Buch, wenn man einmal von der bereits erwähnten vorzugsweisen Verwendung von „Elohim“ für „Gott“ absieht. Allerdings spricht der Inhalt bei ##41 und 42 hier noch deutliche für eine Entstehung in die Zeit nach der Rückkehr aus dem Exil, und diese Einordnung wird auch durch die (so nur im hebräischen Text vorkommenden) Überschrift gestützt: Die Sippe der Korachiter spielte eine bedeutende Rolle im Gottesdienst des zweiten Tempels.
Beim Versuch, Psalm 41 in seinen Kontext einzuordnen, ergibt sich ein merkwürdiger Befund: Sowohl formal wie inhaltlich bilden Psalm 41 mit zwei Abschnitten und Psalm 42, der nur einen Abschnitt hat, unverkennbar eine Einheit. Jeder dieser drei Abschnitte endet mit dem gleichen Doppelvers, in der EÜ von 1980 recht schön wiedergegeben mit „Meine Seele, warum bist Du betrübt und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter auf den ich schaue.“ Wann und warum die ursprünglich zweifellos einen einzigen Psalm bildenden Abschnitte getrennt wurden, ist nicht bekannt. Es gibt durchaus auch hebräische Handschriften, die beide Nummern zusammenfassen. Andererseits behandelt auch die bekanntlich im 3./2. Jahrhundert übersetzte Septuaginta den dritten Abschnitt bereits als eigenständig. Für die Bibelwissenschaftler bietet der Befund Anlaß zu vielerlei gelehrten Spekulationen, der Beter kann sich darüber leichten Herzens hinweg setzen.
Der erste Abschnitt ist ein ergreifendes Klagelied aus der Perspektive des in der Verbannung leidenden Frommen. Fern vom Tempel hat er keine Möglichkeit, das „Antlitz Gottes zu schauen“, sondern muß den gotteslästerlichen Spott der Fremdherrschaft ertragen – ihm bleibt nur die Erinnerung an glücklichere Tage der Vergangenheit in Jerusalem.
Die Wendung „Gottes Antlitz schauen“ erklärt sich nicht von selbst – schließlich mußte schon Moses erfahren, daß kein Mensch Gottes Angesicht schauen kann, ohne zu vergehen. (Exodus 33,18-23). Trotzdem kommt diese Wendung immer wieder vor (z.B. bereits in Psalm 11,7 oder 26,9), vielleicht um eine innere Begegnung mit dem im Tempel präsenten Herrn anzudeuten. Meistens ist von Gottes Angesicht jedoch in der Form die Rede, daß der Herr den Frommen „sein Angesicht zuwendet“ um sie seiner Gunst, seiner Gnade teilhaftig werden zu lassen. Besonders deutlich wird das in Psalm 79, in dem mehrere Strophen mit dem Refrain enden: „Gott, richte uns wieder auf; zeige uns Dein Angesicht, dann ist uns geholfen!
Im Zusammenhang mit dem Gottesdienst im Tempel kann „das Angesicht Gottes schauen“ jedoch noch eine ganz konkrete Bedeutung haben. Zur Ausstattung des Heiligtums (nicht des Allerheiligsten selbst) gehört seit den Zeiten des Bundeszeltes der Tisch der allwöchentlich zu erneuernden „Schaubrote“. Mit „Schaubrote“ hat sich eine ziemlich mißlungene deutsche Übersertzung eingebürgert, die sich alleine auf den äußeren Umstand bezieht, daß diese Brote an den drei hohen Festtagen des Jahres, an denen die Frommen den Tempel besuchen mußten, in feierlicher Prozession vor das Heiligtum getragen wurden – sie wurden, wenn auch nur in verhüllter Form, „zur Schau“ gestellt. Die hebräische Bezeichnung dieser Schaubrote wäre besser wiederzugeben mit „Brot der Gegenwart“ oder „Brot des Angesichts“. Das waren keine gewöhnlichen Brote. Durch ihre siebentägiges Verweilen im Heiligtum, nur durch den Vorhang in den Farben der kosmischen Elemente von der Bundeslade als dem „Schemel seiner Füße“ getrennt, waren sie geheiligt, ja auf geheimnisvolle Weise göttlichen Wesens anteilig geworden. Sie waren, wenn man das so sagen darf, eine unentwickelte Vorform der eucharistischen Gegenwart. Sie versinnbildlichten die gnädige Zuwendung des Herrn zu seinem Volk, ohne diese bereits in einer sakramentalen Weise zu bewirken. Sie waren eines von mehreren „Protosakramenten“, mit denen der Geist das auserwählte Volk auf das vorbereitete, was in der „Fülle der Zeit“ auf es zukommen sollte.
Das alles klingt an im ersten Abschnitt von Psalm 41. Vielleicht doch die Markierung einer Schwelle oder einer Stufe gegenüber den Inhalten des ersten Buches.
Der zweite Abschnitt bleibt nahe bei der Situation des Exils, wenn sich auch der Ton ein wenig von der im ersten Abschnitt allein herrschenden Klage etwas stärker zu Bitte und Gebet wandelt. Im ersten Abschnitt, so scheint es, findet der Klagende noch nicht einmal die Kraft zum Gebet – nur Tränen bei Tag und bei Nacht. Diese eine Zeile wird dann im zweiten Abschnitt aufgenommen und betend ins Positive gewendet: Bei Tag schenke der Herr seine Huld, denn ich bete zu ihm jede Nacht.
Letzte Bearbeitung: 11. April 2024
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