Beatus, qui intelligit — Ps. XL (41)

Im Vordergrund Christus, der von Judas geküsst wird. Im Hintergrund die Schar der Bewaffneten und der eine oder andere verängstigt fliehende Jünger.

„Mein Vertrauter, mit dem ich mein Brot geteilt, hat mich verraten und betrogen“ (Ps. 50, 10)

Dieser Psalm hat eine hervorgehobene Stellung: Er bildet den Abschluß des „Ersten Buches“ oder Kapi­tels. Der Psalmentext selbst kennt keine entspre­chen­den überschriften, aber die letzten Psalmen jedes Buches sind mit einer besonderen Doxologie ausge­zeichnet, die jeweils den sonst nirgendwo vorkom­men­den Ausruf „Amen!“ ent­hält. Für Psalm 40 lautet diese Doxologie: Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit; Amen.

Wem das bekannt vorkommt, der hat natürlich recht: Das ist eine der Grundformen, aus denen die von den Christen zum Gebetsschluß verwandte allgemeine Doxologie abgeleitet ist – mit einer charakteristischen inhaltlichen Abweichung: Ehre sei dem Vater, und dem Sohne, und dem Heiligen Geiste. Von Ewigkeit zu Ewigkeit Amen.

Der Psalm selbst bietet weder formal noch inhaltlich viel, was seine Platzierung an dieser herausgehobenen Stelle erklären könnte. An mehreren Stellen sind im Hebräischen die genauen Bezüge der Satzteile und ihr zeitlicher Zusammenhang nicht ganz klar – die griechische Version hat sich hier bereits für eine konsistente Lesart entschieden, die ein Verständnis wesentlich erleichtert.

Psalm 40 wird gemeinhin in drei Abschnitte eingeteilt, deren inhaltlicher Zusammen­hang eher locker ist. Der erste Abschnitt enthält in allgemeiner Form eine Seligpreisung für den Mann, für die Menschen, die sich der Armen und Schwachen annehmen und dafür ihrerseits in guten wie in schlechten Tagen das Wohlwollen des Herrn erfahren. Die altorientalischen Gesellschaften waren selbstverständlich patriarchalisch organisiert. „Gemeindepolitik“, zu der man die Wohltätigkeit sicher rechnen muß, war Männersache, genauer gesagt, Sache der Familienoberhäupter. Diesen Familien in ihrer Gesamtheit gilt dann auch das hier in Aussicht gestellte Wohlwollen des Herrn.

Der zweite Abschnitt, der in zwei Strophen von Vers 5 bis Vers 11/12 reicht, wechselt in eine Gebetsform, in der Gott selbst direkt angesprochen wird. Es ist das Gebet eines Kranken, der um Heilung und damit auch um Rechtfertigung gegenüber einer feindlich gesinnten Umgebung bittet, die seine Krankheit als Zeichen einer wegen schwerer Verfehlungen verhängten Strafe Gottes ansieht. Man kann zwischen diesem Gebet und dem ersten Teil einen Zusammenhang herstellen über den Begriff der Krankheit, der in beiden Abschnitten vorkommt. Vielleicht bezieht sich der Beter des zweiten Abschnitts auf die im ersten Abschnitt geäußerte Seligpreisung des Barmherzigen: War er nicht immer mildtätig und gerecht gegenüber den Schwachen, und hätte er es nicht deshalb „verdient“, daß der Herr sich ihm in seiner jetzigen Notlage zuwendet? Der Tun-Ergehen-Zusammenhang funktioniert im Guten wie im Schlechten. Christliche Beter sollten zwar wissen, daß das nicht so einfach geht, aber die Versuchung, mit Gott zu rechten und zu rechnen, ist nicht nur dem Beter des Alten Testaments allzu vertraut.

Eindeutig alttestamentlich gefärbt ist demgegenüber die in den beiden letzten Versen des zweiten Abschnitts vorgetragene weitere Begründung der Genesungsbitte: Der Beter möchte seinen Feinden „vergelten“ – was immer man sich hier konkret darunter vorzu­stel­len hat – und er möchte das jedenfalls in einer Form tun, die öffentlich sichtbar macht, daß auf ihm und nicht auf diesen Gegnern der Segen Gottes liegt. Im Gegenteil: sie sollen sichtbar ins Unrecht gesetzt werden. Diese öffentliche Zuweisung und Entla­stung von Schuld ist quasi untrennbar verbunden mit dem in vielen Bittgebeten gelobten „Dankgebet vor der ganzen Gemeinde“. Dieses Gelöbnis wird hier überraschenderweise nicht ausgesprochen, ebenso fehlt die sonst nachgerade zum Standard gehörende Vorwegnahme der Erfüllung.

Vielleicht klingen dieser Elemente für jüdische Ohren in der Gesamtheit der Schluß­zeilen 11 – 13 mit an. Ob diese Schlußzeilen wirklich einen eigenständigen Abschnitt bilden, ist schwer zu entscheiden – auch die Übersetzer der Septuaginta haben sich hier nicht wirklich festgelegt, sondern lassen einfach einen Gedanken dem anderen folgen. Damit kann auch der christliche Beter gut leben.

Die bereits erwähnte Schlußdoxologie, die dem ganzen ersten Psalmbuch und nicht Psalm 40 gilt, hat von daher zur Erklärung des Inhalts dieses Psalms nichts beizutragen.

Aber da ist noch ein weiteres Element, das dem Psalm eine Sonderstellung zuweist. Die Doxologie in ihrer hebräischen Form „Yahweh Elohe Yisrael“ verwendet in der vollen Gottesanrede sowohl den persönlichen Gottesnamen Yahweh als auch die „Gattungsbezeichnung“ für Gottes­wesen mit dem Stamm „El“ – Yahweh, der Du der Gott Israels bist. Das ist so ähnlich zwar schon gelegentlich in vorhergehenden Psalmen vorgekommen – aber mehrheitlich wird Gott dort mit seinem persönlichen Namen Yahweh angesprochen. 200 mal Yahweh gegenüber 43 Mal eine Form von El, wenn wir richtig gezählt haben.

Ab Psalm 41 und dann für die nächsten 40 Psalmen kommt dagegen fast ausschließlich das Wort für Gott allgemein vor, und zwar meistens in einer Pluralform „Elohim“, was für die Juden der Zeit vielleicht wie „Göttergott“ oder „Gott aller Götter“ geklungen haben mag.

Eine solches statistisches Ungleichgewicht kann kein Zufall sein, zumal sich in den Psalmen 41 – 80 auch solche finden, bei denen es Anzeichen dafür gibt, daß ein ur­sprüng­lich im Text stehendes „Yahweh“ bei der Zusammenstellung des Buches (Das zweite Psalmenbuch geht von 41 bis 71, das dritte von 72 bis 88) in „Elohim“ geändert worden ist – als ob hier jemand eine Parität hätte herstellen wollen.

Das ist insoweit nicht unwahrscheinlich, als es die beiden Gottesbezeichnungen auch in anderen Büchern gibt – meistens in jedem Buch aber ausschließlich oder deutlich über­wiegend die eine oder die andere davon. Die Bibelwissenschaft hat daraus die Theorie entwickelt, diese Bücher der Bibel und eben auch die Bücher des Psalters stammten aus zwei verschiedenen Traditionslinien, die sich unter anderem nach der Verwendung des Gottesnamens unterscheiden ließen. Das kann, muß aber nicht so sein. Wichtiger für Lektüre und Gebet der Psalmen erscheint ein anderer Aspekt dieser Doppelung im Gottesnamen:

Es klingt ziemlich verschieden, ob ich Gott mit seinem persönlichen Namen anspreche, oder ob ich von Gott in einem eher abstrakterem Sinn rede. Das erste bezeichnet ein eher vertrauliches und geradezu familiäres Verhältnis – wie geschaffen für das Gebet zum Bundesgott des Volkes Israel. Das zweite ist eher Theologensprache und eignet sich besonders gut zur Orientierung in einem Umfeld, in dem andere Völker andere Götter verehren: Ja, die Kanaaniter beten zu Baal als ihrem Gott – aber wir Israeliten wissen, daß Du, Jahweh unser Gott und der einzig wahre Gott bist! (Wir haben das Problem im Zusammenhang mit Psalm 11 schon einmal ausführlicher angesprochen.)

Ein Problem entsteht nun dadurch, daß die frommen Juden irgendwann – das war wohl ein längerer Prozess, der sich vom 6. bis zum 4. Jh. hinzog – ein Tabu um den persönlichen Gottesnamen Yahweh errichteten: Er durfte, um Verunehrung (etwa durch magische Anrufungen) auszuschließen, nicht mehr ausgesprochen werden. Statt dessen sagte man Adonai „der Herr“ – in den Schriften blieb es bei den vier Buchstaben (das unaussprechliche Tetragramm!) für J(a)hw(e)h. Aber Adonai ist natürlich kein persönlicher Name – Herren gibt es viele. Das klingt ganz anders, aber da viele Juden, nicht nur die „Schriftgelehrten“ sondern zahlreiche Männer der bessergestellte Kreise, lesen konnten und die Schrift lasen, blieb das Bewußtsein für den persönlichen Gottesnamen erhalten. (Nicht unbedingt das Wissen um seine korrekte Aussprache, seit Jahrhunderten streitet sich die Wissenschaft, ob das Tetragramm Jahweh oder Jehowa oder sonstwie ähnlich vokalisiert war. Was für Übersetzungs- und Deutungsversuche keinesfalls belanglos ist).

Die griechischen Juden von Alexandria bis Pontus hatten also ein Problem: Übersetzen sie das, was, da steht – oder das, was vorgelesen wird. Die Übersetzer der Septuaginta entschieden sich für den zweiten Weg, die Lateiner folgten, und so ging das Gefühl dafür, daß mit Jahweh ein persönlicher Gottesname und die ganz direkte Ansprache des quasi „zur Familie gehörenden“ Bundesgottes verbunden ist, in den Übersetzungen (und bei den Betern) dieser Tradition weitgehend verloren.

Einige Griechenjuden scheinen dieses Problem gesehen zu haben. Es gibt Fragmente von vorchristlichen Übersetzungen des AT ins Griechische, in denen der Gottesname stets als das Tetragramm in hebräischen Buchstaben geschrieben ist – ob er dann „adonai“ oder „kyrios“ vorgelesen wurde, oder doch schreibgetreu „Jahweh“, ist unbekannt. Aber auf jeden Fall wirkte dieser Kunstgriff wie bei den hebräischen Texten darauf hin, das Bewußtsein zu stärken, daß der Gott des Bundes eine Person mit einem Eigennamen ist; eine Person, ein Vertrauter, ja sogar ein Verwandter: Vater unser der Du bis im Himmel!

Eng mit dem hier angerissenen Problem verbunden ist ein anderes, das hier aber nur ganz knapp angedeutet werden kann. - vielleicht gibt ein anderer Psalm Anlaß, näher darauf einzugehen. Alles deutet darauf hin, daß Israel unter der Führung des Geistes (qui locutus est per Prophetas) aus dem ursprünglich im ganzen Alten Orient herrschenden Polytheismus nur allmählich und sehr langsam und mit Rückfällen zur Höhe des Glaubens an den Einen Gott emporgehoben wurde. Die Religionswissenschaft hat zwischen Polytheismus und Monotheismus Übergangsformen erkannt, und eine davon ist der sogenannte Monolatrismus: Ein Volk verehrt nur einen einzigen Gott. Andere Völker mögen andere Götter verehren – warum sollte man deren Existenz bezweifeln oder gar bestreiten – aber WIR haben nur EINEN Gott, und wir kennen seinen Namen: Yahweh.

So entsteht ein historisches Kontinuum, das aus einer Vielgötterwelt von dem einen Gott, der eifersüchtig darauf achtet, daß keiner aus seinem Volk „fremd geht“ zu dem einzigen Gott führt, der die ganze Welt und alle Menschen und Völker regiert und vor dem alle anderen zu Trugbildern verblassen oder gar als Dämonen „verteufelt“ werden. Psalmen wie 17 und 28 können als Hinweis darauf gelten, daß genau eine solche Entwicklung die Juden zum später (etwa ab den Reformen von König Josia im 6. Jh.) so konsequent ausgebildeten Monotheismus geführt hat. Neuere Publikationen (Jonatan Adler), die freilich noch auf ihre Diskussion und Bestätigung warten, sehen die Entstehung des streng monotheistischen und hingebungsvoll bis intolerant an das mosaische Gesetz gebundenen Judentums sogar noch wesentlich später – nicht vor dem 2. Jh. Das erscheint freilich schon nach dem Inhalt der Psalmen, die im wesentlichen im 4. Jahrhundert ihre abschließende Form erhielten, in dieser Schärfe nicht sehr wahrscheinlich.

Letzte Bearbeitung: 26. März 2024

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