Domine, ne in furore me — Ps. XXXVII (38)

Der schwer geschlagene Hiob sitztauf einem Stein gegenüber dreien seiner dunkel dargestellten Freunde und bekennt sich auch im Elend zum Vertrauen in Gott.t

„Der Herr liebt das Recht und verläßt seine Frommen nicht.“ (Ps. 37, 28)

Dieser Psalm wird von der Kirche als dritter in der Reihe der Bußpsalmen eingeordnet. Er ist das Klagetgebet eines schwer Kranken und fällt als solches aus der Reihe der ihn umgebenden Lehrgedicht heraus. Was nicht heißt, daß er nicht doch starke lehrhafte Aussage hätte: In wenigen Psal­men wird der Tun-Ergehen-Zusammenhang so deutlich ausgesprochen wie hier in Vers 4 und 5: An meinem Fleisch ist nichts Gesundes wegen Deines (verdienten) Zornes, wegen meiner Sünde ist nichts heil an meinem Gebein. Der ganze Psalm ist erfüllt von der Klage des Beters über seinen miserablen Zustand, der nicht nur in seinr körperlichen Dimension, sondern auch als geistiger Zusammenbruch und in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen (12, 13) erlebt und breit ausgemalt wird.

An keiner Stelle wird diese Klage zum bloßen Selbstmitleid, denn der Beter bleibt sich stets bewußt, daß sein Zustand von Gott gewollt und verursacht ist – nicht aus Willkür, sondern als Strafe für ganz persönliche Sünden. Über die Art dieser Sünden ist nichts gesagt; alles was wir hören ist Klage, Zer­knirschung und Reue. So stark ist diese Zer­knirschung, daß der Beter auch gegenüber seinen irdischen Verächtern und Verfolgern den Mund nicht aufmacht und wehrlos bleibt: Beide Seiten teilen die gemeinsame Überzeugung, daß solches Unheil nur den ereilt, der es auch durch schuldhaftes Verhalten selbst verdient hat.

Etwas überraschender Weise erwächst dem Beter aus diesem Wissen darum, daß er Strafe verdient hat, im letzten Abschnitt (ab Vers 16) auch der Mut und die Hoffnung, daß der Herr letztlich alles zum Guten wenden werde. Die Entlastungsgründe, die er dem Herrn gegenüber anführt, sind bemerkenswert frei von „faulen Ausreden“. Er bleibt bei seinem Schuldbekenntnis (19), aber macht doch gleichzeitig geltend, daß er „eigentlich“ zu den Guten und Gottesfürchtigen gehört: Hat er nicht allen Gutes erwiesen? Hat er nicht zumindest im Rahmen seiner schwachen Möglichkeiten stets nach dem Guten getrachtet (21) und sich gerade dadurch diejenigen zu Gegnern gemacht, die (wie die Gottlosen von Psalm 36) durch und durch von der Ablehnung Gottes und allen Guten erfüllt sind? Sollen die nun angesichts seines Leides triumphieren, ihn für einen der Ihren ansehen oder, was noch schlimmer wäre, als Zeugnis dafür herhalten, daß es (wieder klingt Psalm 36 an) keinen Gott gibt, sondern nur ein blind waltendes Schicksal? Bei alledem bleibt der Beter von Psalm 38 weit entfernt von der Haltung, die wir bei der Betrachtung von Psalm 25 als Tendenz zur Selbstgerechtigkeit konstatieren zu können glaubten: Hier spricht nicht der stolz auf seine Verdienste verweisende Pharisäer, sodern der schuldbewußte Zöllner, der reuige Sünder.

Ein Blick auf Psalm 78 mag helfen, die Vorstellungswelt, aus der heraus dieser Beter an Gott herantritt, ein wenig besser zu verstehen. Bei aller Erhabenheit, die das (als solches unzulässige!) Bild Gottes im Bewußtsein der gläubigen Juden auszeichnet, so bleibt es doch in vielem anthropomorph, menschenähnlich, und das gerade auch hinsichtlich des von Gott erwarteten Verhaltens, um nicht zu sagen seines „Charakters“. Ein Zug dieses Charakterbildes ist der überragende Stellenwert, den der Herr seiner Ehre beimißt – und in Psalm 78, 9, (und an vielen anderen Schriftstellen) wird dieser Charakterzug ganz offen angesprochen: „Um der Ehre Deines Namens willen, Herr, reiß uns heraus (78, 9). So weit geht 37 nicht, aber wer erst einmal für diese Argumentationsfigur sensibilisiert ist, für die Eifersucht, mit der Jahweh seine Ehre verteidigt, kann sie auch hier heraus­hören. Die Treue und Barmherzigkeit Jahwes ist nicht nur eine Sache zwischen ihm und seinen Getreuen und dem auserwählten Volk – sie ist auch eine Sache seiner Ehre vor allen Menschen.

Und das gibt dem Beter von Psalm 38 den Mut, in der vorletzten Zeile seines Liedes von der Klage zur direkten Bitte überzugehen und im letzten Wort der letzten Zeile (und somit des ganzen Liedes) sogar Erfüllungsgewissheit auszusprechen: Du mein Heil. Und dennoch scheint es bemerkenswert, daß diese Gewißheit nicht wie sonst bei vielen Bittgebeten vom vorauseilenden Dank für die als bereits eingetroffen wahrgenommene Erfüllung begleitet ist. Der Beter von Psalm 38 ist in vieler Hinsicht ein, man könnte sagen, sehr „moderner“ Mensch (wenn der „moderne Mensch“ nicht vielfach so stolz auf seine Gottlosigkeit wäre), ein Mensch, der seiner „existenzielle Gebrochenheit“ oder was dergleichen Begriffe sind, erkannt hat und sich seiner Kleinheit und Sprachlosigkeit vor Gott bewußt ist. Diese Art von „Modernität“ macht es leichter, bei diesem Psalm auf „historisch-kritische“ Detailuntersuchungen oder Textanalysen zu verzichten und statt dessen dem Geist der hier waltenden Frömmigkeit nachzuspüren. Sie hat der „Moderne“ viel zu bieten. Wer auf „Anschlußfähigkeit“ aus ist, wird hier fündig.

Letzte Bearbeitung: 26. März 2024

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