Noli aemulari — Ps. XXXVI (37)
„Der Frevler belauert den Gerechten und sucht ihn zu töten“ (Ps. 36, 32)
Dieser mit 40 Versen verhältnismäßig lange Psalm ist von der ersten bis zur letzten Zeile im lehrhaften Ton der weisheitlichen Tradition verfaßt. In Imperativ nach Imperativ sagt er dem Beter, was (und warum) er tun und unterlassen soll. Die in der Überschrift behauptete Zuschreibung „von David“ ist daher bestenfalls für einige darin möglicherweise überlieferte Sinnsprüche berechtigt. Eine inhaltliche Gliederung oder Rangordnung der gebotenen Ratschläge und Lebensregeln ist schwer erkennbar, dagegen gibt es eine deutliche formale Reihenfolge: Im wesentlichen folgen die aus jeweils zwei Versen bestehenden Strophen mit dem ersten Buchstaben ihres ersten Wortes dem hebräischen Alphabet – wovon naturgemäß in der griechisch lateinischen Tradition nichts mehr zu erkennen ist.
Mit etwas Anstrengung kann man inhaltlich drei oder vier Hauptteile unterscheiden: Der erste (V 1 - 11) wendet sich an den Gerechten, der nach dem Guten strebt. Ein zweiter (12 – 22) hat demgegenüber den Frevler im Auge und rückt die ihm bevorstehende Vergeltung ins Bild. Diese beiden Abschnitte enden jeweils mit einer Deklaration, daß „die Gerechten das Land besitzen“ werden – darauf ist noch zurückzukommen. Ein kurzer wie ein Zwischenakt erscheinender dritter Teil (23 – 26) scheint inhaltlich zum ersten zurückzukehren, er beschreibt das Wohlergehen und den Segen, mit dem die Gerechten als Belohnung ihrer Treue zu Gottes Gesetz rechnen können.
Der lange vierte Abschnitt (27 – 40) beginnt mit einem dramatischen „meide das Böse, tue das Gute – und bleibe für immer“. Wo dieses Bleiben stattfindet, wird nicht gesagt. Moderne Erklärer ergänzen hier gerne nach dem in anderen Versen (3, 9, 11, 22, 34) ausgesprochenen „Land“ ein „wohnen im Lande für immer“. Aber genau das steht da eben nicht, und wenn bereits die Septuaginta dort schreibt „in alle Ewigkeit“, muß man das ernst nehmen als Ausdruck der zumindest bei den Juden der vorchristlichen Jahrhunderte schon starken Hoffnung auf ein übernatürliches Leben. Tatsächlich verwendet auch der masoretische Text in diesem Abschnitt mehrfach (V. 28, 29) Präpositionen, die auf überzeitliche Dauer hindeuten. Im übrigen erscheint dieser letzte Abschnitt wie eine zugespitzte Zusammenfassung und Wiederholung des in den vorangehenden Abschnitten Ausgeführten
Besonders in diesem vierten Abschnitt, aber auch sonst, sind viele der Ratschläge und Ermahnungen (teilweise über die Strophen hinweg) antithetisch aufgebaut: Sie sagen, was man Gutes tun und Böses meiden soll, und stellen als Gegenbild vor Augen, wie der Herr die belohnt oder bestraft, die dem jeweiligen Rat folgen oder nicht. Besonders „realistisch“ im irdischen Sinne geht es dabei nicht immer zu, wenn es etwa in Vers 25 heißt: Einst war ich jung, jetzt bin ich alt – doch ich habe nie erlebt, daß ein Gerechter (von Gott) verlassen wurde und seine Kinder um Brot betteln mußten. Oder in 32/33: Der Gottlose stellt dem Gerechten nach und will ihn ermorden – doch der Herr überläßt ihn nicht seiner Hand und wird ungerechte Urteile gegen ihn nicht bestätigen. Hier und in anderen ähnlichen Passagen triumphiert die Ordnung, wie sie sein soll, und die darauf gerichtete Erwartung eindeutig über die in der irdischen Realität zu beobachtenden Abläufe. Sinn machen solche Aussagen nur dann, wenn man eine letztlich über diese irdischen Verhältnisse hinausgehende höhere Wirklichkeit zumindest als Ahnung und Hoffnung voraussetzt – die beiden letzten Verse 39/40, die so weit wir sehen als einzige futurisch formuliert sind, deuten genau darauf hin
Noch ein paar Überlegungen zum „Wohnen im Lande“. Daß das „Wohnen im (gelobten) Lande“ schon vor und erst recht nach den traumatischen Erfahrungen des Exils im Bewußtsein der Juden eine überragende Rolle spielte, steht außer Zweifel. Daß dieser Gedanke den Psalm wie ein roter Faden durchzieht, ist unverkennbar. Dafür, daß er hier im Sinne der von der Zenger-Schule entdeckten und nachgerade klassenkämpferisch verstandenen „Armentheologie“ verstanden werden müsse, sehen wir gerade hier keine Anhaltspunkte. Die Armen und Gerechten von Psalm 36 sind kein besitzloses Proletariat (V. 16). Sie haben sogar genug, um anderen, die wirklich in Not sind, auszuleihen (26). Nicht die Armen, auch nicht die „Armen im Geiste“ stehen hier im Mittelpunkt, sondern die Gerechten, die das Gute tun – und dafür allerdings nach dem auch hier vorausgesetzten Tun-Ergehen-Zusammenhang bereits mit irdischem Wohlergehen belohnt werden.
Letzte Bearbeitung: 26. März 2024
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