Dixi: Custodiam vias — Ps. XXXVIII (39)
„Herr, worauf soll ich hoffen? Auf Dich allein will ich harren.“ (Ps. 38, 8)
Mit diesem Psalm kehrt die Sammlung wieder zur Reihe der lehrhaften Gedichte zurück, freilich mit einem bemerkenswerten Unterschied in der Tonart: Hier spricht nicht ein graubärtiger Alter oder gar die personifizierte Weisheit selbst wie in 33, 12: „Kommt ihr Kinder, hört mir zu“. Eher schon werden wir Zeuge eines Selbstgesprächs, eines inneren Monologes, der aus konkreter Lebenserfahrung zu kommen scheint und bald in ein Gebet übergeht. Dabei scheint er in vielem an die Situation und die Geisteshaltung des vorangehenden Klagepsalms anzuknüpfen – ohne doch wirklich zum Ausdruck einer individuellen Klage oder einer konkreten Notsituation zu werden. Das, was hier verhandelt wird, geht alle an – und das ist wieder genau wie beim Lehrgedicht.
Ein Problem für den heutigen Beter: Eine geordnete Reihung ist schwer nachvollziehbar – entweder, weil die Denkweise sehr verschieden ist von der uns heute geläufigen, oder weil die Überlieferung des Textes schon früh unsicher geworden ist, so daß beide Traditionslinien (die griechische wie die hebräische) nicht leicht „auf die Reihe“ zu bringen sind. Die Kirchenväter bieten sehr verschiedene Interpretationen, die in der Regel dadurch gekennzeichnet sind, daß jeder Vers oder jeder Doppelvers quasi für sich gesehen und aus christlicher Perspektive gedeutet wird. Die modernen Exegeten versuchen, die Abschnitte oder Strophen von Psalm 38 in einen großen Gedankenbogen zusammenzubinden. Das Ergebnis muß nicht das wiedergeben, was dem Dichter der Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends tatsächlich vor Augen stand – aber es bietet einen Bogen, der zur Orientierung nützlich ist.
Danach wäre die Grundsituation die eines schwer Kranken, der über die Gründe seiner Krankheit und seinen rechten Umgang damit und schließlich über die allgemeine menschliche Situation nachsinnt – teils still für sich, teils im Gebet mit dem Herrn. Im ersten Abschnitt (2 – 4) stellt sich der Beter die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, über das schlimme Los zu klagen, das ihn (nicht ohne eigenes Verschulden, V. 12) betroffen hat. Sicherlich nicht gegenüber den Sündern, die dadurch vom Vertrauen in Gott abgehalten werden könnten. Und als „Sünder“ sieht er wohl, sich eingeschlossen, alle Menschen. Aber allen Kummer stumm in sich hineinfressen kann er auch nicht, und so wendet er sich in den folgenden Abschnitten direkt an den Herrn selbst.
Der erste Abschnitt dieses Gebets (5 – 7) vermeidet dabei jeden Anklang einer Klage, erst recht nicht einer Anklage, sondern ist voller voller Einsicht und Einsichtsbereitschaft in die unabänderliche Vergänglichkeit und Nichtigkeit des irdischen Menschenlebens. Und doch würde er gerne wissen: Wie lange noch? - ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen, denn das weiß er: vor Gott ist jede menschliche Lebenszeit wie ein Nichts.
Der zweite Abschnitt (8 – 12) ist von der an den Herrn gerichteten Frage geprägt: Worauf soll ich, worauf können wir hoffen? Und er gibt sich selbst die Antwort: Nur auf den Herrn! Er hat alles recht gefügt, er straft die Menschen wegen ihrer Sünden, aber er verläßt sie auch nicht in der Not. (Wobei die Gedanken im Text in der umgekehrten Reihenfolge steht: Erst die Beispiele für die Milderung der Not, dann die Einsicht, daß die Notlage Folge der eigenen Sünden ist). Der Abschnitt schließt dann mit dem Ausruf: Wahrlich – nur ein Hauch, ein Dunst ist der Mensch. (V. 12)
Der gleiche Gedanke wird auch im vorangehenden Abschnitt (V. 6) ausgesprochen – wenn auch in den einzelnen Sprachversionen in leicht variierten Worten. Die ältere Version der deutschen „Einheitsübersetzung“ (1980) schreibt an beiden Stellen einheitlich „Ein Hauch nur ist jeder Mensch!“ – Das erscheint überaus passend. Die revidierte EÜ von 2016 versucht, die Unterschiedlichkeit der Vorlagen beizubehalten, vergröbert sie dabei und tut der Verständlichkeit des Gemeinten damit keinen guten Dienst. Dabei konnten sich die Übersetzer von 1980, die generell ein wenig mehr auf die Wahrung des Charakters der Psalmen als „Dichtung“ bedacht waren, darauf stützen, daß der fragliche Satz(teil) im Hebräischen ebenso wie in der Septuaginta durch das berüchigte „sela“ markiert wird. Das ist eine Markierung, deren genaue Bedeutung wohl schon den Übersetzern der Septuaginta nicht mehr geläufig war und die oft als eine Art gesprochenes (vielleicht aber auch in einem besonderen Ton gesungenes) oder zumindest geschriebenes) Ausrufezeichen gedeutet wird. Das wäre dann nicht unähnlich dem „Amen“ – das übrigens in der Sprache der Psalmen nur extrem selten vorkommt, nämlich jeweils zur Markierung der Abgrenzung zwischen den fünf Büchern, in die der Psalter seit Alters her eingeteilt wird.
Doch zurück zum dritten und letzten Abschnitt des Gebetes von Psalm 38. Er beginnt wie die beiden vorhergehenden Gebetsabschnitte mit einer direkten Anrufung des Herrn. Diese Anrufung erfolgt hier in einer Formel, die sinngleich an vielen Stellen des Psalters vorkommt und so auch wörtlich (nach dem lateinischen Wortlaut der Vulgata oder Vetus Latina in Psalm 102) in das Gebet der Kirche übernommen worden ist: „Herr erhöre mein Gebet und laß mein Rufen zu Dir kommen“. Dem folgen dann nur noch zwei kurze, aber inhaltsschwere Zeilen:
„Denn nur wie ein Gast bin ich vor Dir, ein Reisender wie alle meine Väter. Wende Deinen (strengen) Blick von mir, daß ich wieder zu Kräften komme, bevor ich weggehe und nicht mehr da bin.“
„Schwierige Wörter sind hier der „Reisende“ und der „strenge Blick“ – und in beiden Fällen bringt es die neue Einheitsübersetzung fertig, das Verständnis zu verdunkeln. Die alte EÜ hat hier „Fremdling“ – das ist nicht falsch, entspricht aber nur begrenzt den in den Ausgangssprachen gebrauchten Wörtern, die weniger die Fremdheit betonen, sondern die besondere Stellung des Reisenden, der Gastrecht genießt und von daher seinem Gastgeber nicht wirklich „fremd“ ist: Beide sind durch ein Bündel von gegenseitgen Rechten und Pflichten verbunden. Die revidierte Fassung von 2016 schreibt hier „Beisasse“ und demonstriert damit aufs Schönste, wie gebildet der Übersetzer und wie ungebildet das gemeine Volk in den Kirchenbänken ist - ohne die Sache besser zu treffen als der Vorgänger.
Zum strengen Blick. Die 1980 gegebene Übersetzung „wende Dein strafendes Auge ab“ ist zwar inhaltlich zutreffend, führt Leser und Beter aber leicht auf eine falsche Spur. Ebenso die neuere Einheitsübersetzung mit ihrer Wendung “Blick weg von mir“. In zahllosen Stellen der Psalmen und des AT überhaupt ist das „Angesicht“ oder der „Anblick“ des anthropomorph vorgestellten Gottes ein Zeichen seiner Gnade und seines Wohlwollens. Das hier im Hebräischen stehende Wort kommt in dieser Form im ganzen AT nur einmal eben an dieser Stelle vor, es ist ein sogenanntes Hapax legomenon, ein schutzloses Waisenkind und Liebling vieler Übersetzer, weil sie mit ihm machen können, was sie wollen. Nichts zwingt dazu, hier von Auge oder Angesicht zu sprechen. Septuaginta und Vulgata haben hier Verben, die man mit „lass ab von mir“ wiedergeben kann – und genau so steht es auch in trauter Eintracht in der Lutherbibel und allen älteren katholischen Übersetzungen. Den „Blick“ oder das „Auge“ hat wohl erst einer der neueren Exegeten hineingebracht – und alle laufen ihm nach, denn daran lassen sich die schönsten Spekulationen aufhängen.
Inhaltlich interessanter als solche philologischen Feinheiten, die wir uns für gewöhnlich ersparen wollen, ist es, noch einmal auf den allerletzten Satz zu schauen: „Bevor ich weggehe und nicht mehr da bin“. Das klingt beim ersten Hinhören nicht danach, als ob der Beter zu einer der jüdischen Richtungen gehört hätte, die bereits eine mehr oder weniger starke Ahnung vom Leben nach dem Tode gehabt haben. Wir können diese Zugehörigkeit weder ausschließen noch bejahen. Das Judentum, so streng und starr es seiner Lehre vom „Gesetz“ erscheinen mag und von den Pharisäern der Zeit Jesu präsentiert wurde, war in der Lehre – soweit sie nicht auf eindeutigen Schriftworten beruhte – höchst „undogmatisch“ . Die Christen sahen dies freilich völlig anders, und für die Kirchenväter ist es gar keine Frage. Sie interessiert nicht der Glaube der zu ihrer Zeit ja auch schon tausend Jahre zurückliegenden Psalmendichter, sondern das Seelenheil der Christengemeinde. Der hl. Augustinus, der wohl einen ähnlichen Wortlaut wie den der Vulgata vor Augen hatte, liest den letzten Satz ohne weitere Umstände als eine Bitte um Vergebung aller Schuld, deren Erfüllung durch den Erlösungstod Christi am Kreuz gewährt wird, so daß der Beter nicht in den „ewigen Tod“ hinabsinken muß.
Letzte Bearbeitung: 24. Mai 2024
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