Dixit injustus — Ps. XXXV (36)
Die Hand der Frevler soll mich nicht vertreiben
(Ps. 35, 12)
Mit Psalm 35 beginnt eine kleine Folge von lehrhaften Gedichten, die je nachdem, wie weit man den Begriff der Lehrgedichte verstehen will, bis zum Ende des ersten Buches (Psalm 40) geht – wobei allerdings # 38 ganz aus der Reihe zu fallen scheint.
Psalm 35 ist sprachlich ziemlich schwierig, es gibt zwischen dem Text der hebräischen und der griechisch/lateinischen Traditionslinie teilweise deutliche Abweichungen, manches an der hebräischen Version ist schwer verständlich und wird erst dann interpretierbar, wenn man traditionellen jüdischen Kommentaren folgt – oder sich an der leichter verständlichen griechischen Fassung orientiert. Der 13. und letzte Vers wird von vielen Erklärern aus der masoretischen Tradition als Antwort auf eine möglicherweise im ersten Vers angedeutete Orakelfrage interpretiert.
Tempelorakel der verschiedensten Art hat es zweifellos gegeben, doch scheint darüber wenig bekannt zu sein. In der griechischen Tradition, die auf Juden in der Diaspora und fern des Tempels zurückgeht, gibt es keinen Hinweis auf einen derartigen Zusammenhang, so daß wir diese denkbare liturgische Einrahmung des Psalms bei unserer Lektüre beiseite lassen. Der lehrhafte Charakter des Ganzen tritt dadurch nur umso deutlicher hervor.
Dabei ergibt sich eine Teilung des Psalms in drei Abschnitte. Der erste (V. 2 – 5) beschreibt anklagend die Denkweise und das Verhalten des Gott- oder Gesetzlosen, dessen Figur uns bereits in # 13 so eindrucksvoll geschildert wurde. Der zweite bietet in hymnischem Ton eine lobende Beschreibung der Gerechtigkeit des Herrn (6 – 9/10), der dritte (9/10 – 13) zieht in Form einer Bitte die Folgerungen aus den beiden ersten: Wer sich gesetzlos und gottlos verhält, der möge durch die Gerechtigkeit Gottes zu Fall gebracht werden. Die Abgrenzung des zweiten vom dritten Abschnitt ist unsicher: Formal könnte jeder Abschnitt des Psalms aus einer vierzeiligen Strophe bestehen – das entspräche einer bei vielen Psalmen anzutreffenden Strophenform. Inhaltlich fällt Vers 10 je nachdem, wie man ihn liest, „zwischen“ die beiden Abschnitte: Die griechische Tradition hängt ihn eindeutig an das Vorangehende, die hebräische läßt auch die Möglichkeit zu, daß er das Folgende einleitet.
Dazu nur so viel: Viele Psalmen lassen sich leichter in in Abschnitte gliedern (und verstehen!), wenn man sie in Strophen zu je vier Versen abteilt, aber die jüdischen Dichter waren hinsichtlich Versmaß (wenn es denn überhaupt eines gab) und Stropheneinteilung jedenfalls keine Pedanten. Bei vielen ist die Einteilung völlig eindeutig und klar erkennbar, bei anderen ist sie zweifelhaft oder irregulär und bei wieder anderen ist sie definitiv nicht vorhanden. Und selbst wo sie vorhanden ist, ist nicht in jedem Fall garantiert, daß die griechischen Übersetzer sie korrekt erkannt und nachgebildet hätten. In Psalm 35 spielt es keine große Rolle, zu welchem Abschnitt man Vers 10 zählt, denn die Abschnitte 2 und 3 gehen in jeder Hinsicht fließend ineinander über.
Zur inhaltlichen Seite. Die in Abschnitt 1 getroffene Charakterisierung des Bösen und seiner Denkweise ist frappierend in ihrer Tiefe, ihrem Umfang und ihrer bis auf den heutigen Tag reichenden Allgemeingültigkeit. Wurzel der Bosheit ist die mangelnde Gottesfurcht, die ihrerseits von der bereits in Psalm 9, 26 angeprangerten Gottlosigkeit herrührt: „Non est Deus“. Es heißt oft, die Menschen der Antike wären zum Atheismus unfähig gewesen. Das mag insoweit zutreffen, als ein „wissenschaftlicher“ Atheismus, wie er heute in vielen Varianten grassiert, kaum denkbar gewesen sein dürfte. Einen praktischen Atheismus hat es nach der auch hier anzutreffenden Darstellung der Psalmen sehr wohl gegeben: Menschen, die ihr ganzes Leben, ihr Reden und ihr Handeln, so ausgerichtet haben, als ob es keinen Gott gäbe. Ihr ganzes Wesen ist von Bosheit erfüllt, und da sie keinen Ausweg suchen, werden sie ihn – da ist sich zumindest dieser Psalm nach Vers 13 sicher – auch niemals mehr finden.
Der zweite Abschnitt mit der Beschreibung der Güte und Treue des Herrn steht dem ersten an Tiefe und Allgemeingültigkeit in keiner Weise nach. Die meisten Verse bleiben noch im Rahmen konventioneller poetischer Sprachbilder. Andere beziehen sich wie die Wendung vom „Überfluss Deines Hauses“ und „dem Schutz Deiner Flügel“ möglicherweise auf den Kult des Tempels mit der von den Flügeln der Cherubim überragten Bundeslande. Allerdings gab es im zweiten Tempel, zu dessen Zeit die meisten Psalmen entstanden sein dürften, schon lange keine Bundeslade mehr, und auch als es sie noch gab, war sie dem Anblick der Frommen entzogen. Das Sprachbild ist jedenfalls nicht eindeutig: An anderer Stelle (z.B. Ps. 91,4) wird Gott mit der Henne verglichen, die schützend die Flügel über ihre Küchlein breitet. Wieder andere Passgen wie etwa hier der Schluß von Vers 7 greifen weit über solche Bildvergleiche hinaus.
Mit „helfen“ oder „erretten“ in „Du, Herr, errettest Menschen und Getier“ bieten die meisten deutschen Übersetzungen eine eher auf das Irdische gerichteten Perspektive. Was sicher nicht falsch ist. Aber das hier in den Ausgangssprachen stehende Verb (lateinisch salvare) ist das gleiche, das sonst für „erlösen“ gebraucht wird. Und genau so scheint es auch Paulus zu verstehen, wenn er in seinem Brief an die Römer (8; 19 ff) ausführt, daß die ganze gefallene Schöpfung der Erlösung bedarf – und sie in der Güte des Herrn finden wird. Die griechischen Kirchenväter haben diese Passage auf vielfache Weise allegorisch ausgelegt – etwa, indem sie in der geistbeseelten Menschenwelt die bereits in Gottes Bund gesegneten Juden, im geistlosen „Getier“ jedoch die zuvor „wilden“, dann mit Christus aber ebenfalls zur Erlösung kommenden Heidenvölkern erkannten.
Mit dem zum dritten Abschnitt überleitenden Brückenvers 10 erreicht das Lob des guten und gerechten Gottes sprachlich und inhaltlich seinen Höhepunkt: Bei ihm ist die Quelle des Lebens, von ihm geht alles Licht, alles Gute und alle Lebenskraft aus, nur in ihm kann ein gutes Leben gelingen. Nicht viele Stellen des alten Testamentes erreichen diese Höhe des Gottesverständnisses. Die Poesie und der tiefe Inhalt dieser Zeilen haben die Kirchenväter dazu bewogen, den Text als eine prophetische Vorausschau auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit auszudeuten: „Apud te est fons vitae, et in lumine tuo videbimus lumen“. Mit dem „Bei Dir“ wird der Vater angesprochen, die „Quelle des Lebens“ steht für den Sohn, den Logos, in und durch den alles geschaffen wurde, und das „Licht, in dem wir das Licht schauen“ verweist auf den Geist, der alles erhellt und die Herzen erleuchtet. Das futurische „videbimus“ der Vulgata verweist darüber hinaus – ohne daß das in den Vorlagen eine Entsprechung hätte – auf das Ziel des Lebens im ewigen Licht der Gottesanschauung, das zu Erreichen nur durch den Lebenswandel im Licht der Gnade möglich ist.
Genau von dieser Gnade Gottes ist die Rede, wenn der folgende Vers darum bittet, der Herr möge sein Wohlgefallen und sein Erbarmen denen erhalten, die aufrechten Herzens sind, und sie vom Weg (Fuß) der Hochmütigen und vom Tun (Hand) der Übeltäter fernhalten – womit gedanklich die Brücke zurück zu den Gottlosen aus dem ersten Abschnitt geschlagen wird. Im Stil der Vorwegnahme der Erfüllung eines Bittgebets kann von diesen zu Beginn so großmächtig erscheinenden Bösen im letzten Vers des Psalms dann gesagt werden: Sie sind gefallen und niedergeworfen und können nicht wieder aufstehen. Der Messias, der Gesalbte des Herrn, Christus, hat die Dämonen der Bosheit besiegt.
Letzte Bearbeitung: 26. März 2024
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