In te, domine speravi — Ps. XXX (31)
„Du bist mein Fels und meine Burg - rette und befreie mich.“ (Ps.30, 4)
Der verhältnismäßig lange Psalm (25 Verse) scheint inhaltlich und formal kein eindeutig erkennbares Thema zu haben. Die ersten sechs Verse bilden einen Hilferuf aus unbestimmter Notlage, der sich mit einem Vertrauensbekenntnis verbindet. Die nächsten Zeilen entwickeln aus dem Vertrauensbekenntnis einen Lobpreis Jahwehs und Dank für erwiesene Wohltaten – um dann (Vers 10 – 14) wieder zurückzufallen in die Schilderung einer als gegenwärtig empfundenen extremen Notsituation sowohl individuell-körperlicher als auch sozialer Natur. Dem folgt eine weiter Kombination von Hilferuf und Vertrauensbekenntnis, die diesmal in eine Vergeltungsbitte (V 18,19) mündet.
Darauf folgt ein Einschnitt. Während der Beter in der ersten Hälfte des Psalms von sich, seiner Not und seinem Vertrauen spricht, nimmt der Psalm jetzt (V 19 - 21) eine Wendung ins Allgemeine: Alle Gottesfürchtigen sollen den Herrn wegen seiner Güte, wegen seines Schutzes preisen. Mit Vers 22 und 23 scheint er wieder auf die persönliche Ebene zurück zu fallen, um dann in den Schlußversen wieder zum Allgemeinen aufzusteigen: Liebet den Herrn, all seine Frommen.
Moderne Erklärer betrachten Psalm 30 wegen dieser unruhigen Bewegung oft als eine Kompilation von Elementen unterschiedlicher Herkunft. Das mag so sein – gibt aber noch keinen Hinweis darauf, was denn in der Zeit der Zusammenstellung des Psalmenbuches die vielberufenen Kompilatoren an Gemeinsamkeiten in diesen Elementen gesehen haben, um sie zu einem größeren Gedicht zusammenzufügen. Wir sind – diese Randbemerkung wollen wir uns hier erlauben – sicher nicht der Ansicht, die Kompilatoren seien Supermänner gewesen, die unter Anleitung des Geistes oder aus eigener Fähigkeit den ganzen Psalter als ein hochkompliziertes Netz von Bezügen und Symmetrien nach einheitlichem Masterplan gestaltet hätten. Aber wir glauben auch nicht, daß sie gelegentlich unterschiedliche Elemente der ihnen vorliegenden Überlieferung quasi als „Verlegenheitslösung“ zusammengefaßt hätte, weil sie halt irgendwie berücksichtigt werden mußten. Wir unterstellen also, daß sie auch im Fall der Zusammenfassung ursprünglich nicht zusammengehöriger Verse einen Plan hatten, nach dem diese Stücke sich zumindest in ihren Augen zu einer größeren Einheit ordneten.
Aber eine Kompilationstheorie ist u.E. gar nicht erforderlich, um die oszillierende Bewegung dieses Psalms nachzuvollziehen. Jeder Beter, der sich selbst oft genug in schwierigen Situationen gesehen hat, wird die Stimmungsschwankungen kennen, die das persönliche Gebet begleiten, das Pendeln zwischen Angst und Zuversicht, den Wunsch nach Vergeltung für diejenigen, die man für verantwortlich hält, und was sich an ungerichteten Emotionen sonst noch in das Gebet einschleichen mag. So gesehen ist die fehlende Gradlienigkeit von Psalm 30 nicht zwangsläufig Indiz einer komplizierten Entstehungsgeschichte und keinesfalls ein Hindernis für den frommen Nachvollzug – weder im 4. Jahrhundert vor noch im 21. Jahrhundert nach Christus.
Nimmt man dann noch die Schlußzeilen von Psalm 29 hinzu, in denen das Gottvertrauen sich in hymnischen Tönen dem Begriff der gegenseitigen Liebe zwischen Gott und seinen Frommen nähert – und so der Erfahrung kontrastiert, daß diese Liebesbeziehung im wirklichen Leben oft sehr verdunkelt erscheint – kann man zu dem Schluß kommen, daß die scheinbare Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der Elemente von Psalm 30 genau aus diesem widersprüchlichen Empfinden hervorgegangen sind oder zumindest geeignet sind, dieses auf der subjektiven Ebene zum Ausdruck zu bringen.
Letzte Bearbeitung: 26. März 2024
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